Mattia Lento (38) will ins Abgeordnetenhaus:

«Ich bin kein Dogmatiker»

Jonas Komposch

Eigentlich ist er Journalist für die Tessiner Unia-Zeitung «Area». Doch jetzt tritt Mattia Lento zu den italienischen Parlamentswahlen an. Am 25. September stellt sich heraus, ob der Italo-Zürcher sein Ziel erreicht: den Vormarsch der radikalen Rechten stoppen.

work: Herr Lento, Sie kandidieren für das Abgeordnetenhaus, die grosse Kammer im italienischen Parlament. Wahltermin ist der 25. September. Wird aus dem Journalisten Lento dann ein Parteisoldat und Sesselkleber?
Quatsch! Der Journalismus ist und bleibt meine grosse Passion. Aber ich hatte schon immer auch eine politische Leidenschaft. Nehmen wir meine Arbeit bei «Area», der Tessiner Unia-Zeitung. Das ist mehr als nur ein Job, das ist Engagement mit Herzblut – für die Rechte der Lohnabhängigen. Ausserdem habe ich die Bühne der grossen Politik eigentlich nie gesucht. Es waren meine Freunde, die mich ständig angerufen und dann von der Kandidatur überzeugt hatten. Entscheidend war aber letztlich die soziale und politische Lage in meiner Heimat.

Wie steht’s denn um Italien derzeit?
 In der Wirtschaftspresse heisst es oft, die Krise sei überstanden. Da frage ich mich schon, mit wem diese Journalistinnen und Journalisten reden. Zwar ist die Arbeitslosigkeit gesunken, und viele Firmen machen gute Profite. Doch zu welchem Preis? Die Qualität der Jobs ist miserabel geworden, immer mehr Junge wandern aus. Und die Löhne und Renten sind schon seit Jahren tief. Nun kommt noch die massive Teuerung dazu. Sogar der Mittelstand verarmt jetzt zusehends.

Davon profitiert anscheinend nicht die Linke, sondern die Rechtsextremen um Parteiführerin Giorgia Meloni. Weshalb?
Es ist immer dasselbe Spiel: Viele Leute setzen ihre Hoffnung in jene Partei, die noch nie an der Macht war – und werden dann schnell enttäuscht. Heute sind es Melonis Fratelli d’Italia, die sich als einzige Oppositionskraft inszenieren können. Sie haben mit Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia ein rechtes Wahlbündnis geschmiedet. An seiner Spitze steht Meloni. Salvini und Berlusconi hofieren ihr mittlerweile fast bedingungslos. Die linken und Mitteparteien haben dagegen kein starkes Bündnis zustande gebracht.

Warum nicht?
Meine Partei, die Sinistra Italiana, hatte eine breite Front gegen Rechts vorgeschlagen – mit allen Kräften von ganz links bis hin zur Mitte. Doch der PD (Partito Democratico, die noch mitregierende Mitte-links-Partei, Anm. d. Red.) wollte nicht erneut mit der Protestpartei Cinque Stelle paktieren, da er diese für die aktuelle Regierungskrise verantwortlich macht. Die Cinque-Stelle-Chefs wiederum wollten nicht mit den Linksaussen-Parteien wie der Rifondazione Comunista und der Potere al Popolo zusammenarbeiten. Und für diese kam eine Koalition mit dem PD nicht in Frage…

… weil der Partito Democratico als Regierungspartei versagt hat?
Weil er viele Fehler gemacht hat. Der PD kann zwar auf eine Reihe engagierter und aufrichtiger Exponentinnen und Exponenten zählen, zudem auf eine teils ziemlich linke Basis. Doch gleichzeitig hat der moderate und führende Parteiflügel die neoliberale Verarmungspolitik der Rechten jahrelang mitgetragen. Das rächt sich jetzt.

Trotzdem ist Ihre Partei mit dem PD ein Wahlbündnis eingegangen. Für Sie kein Problem?
Ich bin kein Dogmatiker. Und die Frage ist: Haben wir eine Alternative? Wenn die fortschrittlichen Kräfte sich jetzt zersplittern, ist der Sieg Melonis fast sicher. Und wenn die rechte Koalition auch noch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament holt, kann sie durchregieren und im Alleingang die Verfassung ändern. Die Bevölkerung hat dann nichts mehr zu melden. Und wovon Meloni träumt, ist ja längst bekannt: von einem autoritären Präsidialsystem im Stile Ungarns. Zwar geht sie zum Faschismus nun etwas auf Distanz. Doch das ist reine Wahltaktik. So zeigt das Parteilogo der Fratelli noch immer die «Fiamma tricolore», das Zeichen der neofaschistischen Vorgängerpartei Movimento Sociale Italiano. Mit Meloni würden die Armut und die soziale Misere jedenfalls nur noch schlimmer. Es braucht darum jede einzelne Stimme!

Sind Sie optimistisch?
Wir können es schaffen! Aber so oder so braucht es wieder mehr Druck von der Strasse, eine starke soziale Bewegung, sonst bewegt sich nichts in der Politik.

Sie selbst kandidieren ja im riesigen Wahlkreis der Auslanditalienerinnen und -italiener in Europa. Was beschäftigt die italienische Diaspora zwischen Reykjavík und Wladiwostok?
 Viele Leute glauben, dass heute nur noch Akademikerinnen und Privilegierte Italien verlassen. Das ist ein Irrglaube! Nach wie vor wandern auch Handwerker oder Kellnerinnen aus – und chrampfen dann andernorts in Tieflohnbranchen. Und: Wir werden immer mehr! Fast 6 Millionen meiner Landsleute leben schon im Ausland. Die Schweiz ist mit 650’000 Italienerinnen und Italienern das drittwichtigste Einwanderungsland, nach Argentinien und Deutschland. Das Problem: Die Botschafts-Mitarbeitenden sind überlastet, die Auswanderinnen und Auswanderer werden alleine gelassen, Informationen zum Schulsystem oder zum Versicherungswesen im neuen Land fehlen oft. Auch Sprachkurse gibt es zu wenige.

Sie sind ja auch Filmwissenschafter. Was denken Sie über die Kandidatur der legendären Schauspiel-Ikone Gina Lollobrigida? Sie steht auf einer Liste von diffus-linken Splitterparteien.
 Na ja, als Schauspielerin war «La Lollo» hochbegabt, ein nationaler Star, doch jetzt umgibt sie sich mit politischen Freaks. Ich wünsche ihr trotzdem viel Glück!

Mattia Lento (38): Migrationsexperte und Filmliebhaber

Doktor der Filmwissenschaften – so lautet der akademische Grad von Parlamentskandidat Mattia Lento (38). Geholt hat er sich den Titel an der Universität in Zürich, wohin der gebürtige Lombarde 2009 nach Stationen in Mailand und Glasgow gekommen war. Sein wichtigstes Forschungsgebiet: die italienische Emigration im Schweizer und im italienischen Kino. Heute arbeitet der Vater von zwei Töchtern als Redaktor bei der Unia-Zeitung «Area», als freier Journalist, Filmkritiker und Autor. Sein jüngstes Stück lief im Radio RSI und handelt vom legendären Gewerkschaftspoeten Leonardo Zanier.

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