Italien: Wo der Faschismus nicht mehr bloss Geschichte ist

«Die Wölfin ist im Haus»

Oliver Fahrni

100 Jahre nach Mussolini ergreift die Neofaschistin Giorgia Meloni in Italien die Macht. Doch bereits regt sich Widerstand.

durchmarsch: Mit ihrer rechtsextremen Koalition holte Giorgia Meloni die absolute Mehrheit in beiden Kammern des italienischen Parlaments.(Foto: Getty)

Erinnern Sie sich an die «Sardinen»? Keine drei Jahre ist es her, da schüttelte diese antifaschistische Bewegung Italien kräftig durch. Was mit einem Flashmob auf der Piazza Maggiore von Bologna begonnen hatte, füllte bald Italiens Plätze. Zum «Weltsardinentag» gegen die ex­treme Rechte kurz vor Weihnachten 2019 versammelten sich mehr als 100 000 Menschen in Rom. Dann kam Covid.

Kürzlich riefen die «Sardinen» erneut zur Mobilisierung, um den angekündigten Durchmarsch der Neofaschistin Giorgia Meloni in letzter Minute noch zu verhindern. Ein trauriger Rest von 700 Unverzagten zeigte sich. Meloni aber, die 45jährige Gründerin der Partei Fratelli d’Italia (FdI), holte mit ihrer rechts­extremen Koalition die absolute Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Sie wird die erste Frau an der Spitze Italiens und die erste allein re­gierende Rechts­extreme in einem Gründungsland der EU. Rechtzeitig zum 100-Jahre-Jubiläum von Mussolinis Marsch auf Rom, der die Diktatur und die faschistischen Jahre in Europa (1922–1945) begründet hatte. Meloni fühlt sich als seine legitime Erbin (work berichtete: rebrand.ly/mussomeloni).

Immerhin widerstand ihr Bologna und wählte die Demokraten, aber grosse Teile der früher linken Emilia-Romagna fielen an die Fratelli. Auch die rote Hochburg Toscana kippte, Florenz ausgenommen. Da geht gerade eine lange Epoche zu Ende, in der Italiens Linke ­­die fortschrittlichen Kräfte Europas inspiriert hatte.

So färbte sich die Wahlkarte fast durchwegs braun, von ein paar weiteren Ecken im ­Süden ausgenommen, wo die Fünf-Sterne-­Bewegung einige Sitze retten konnte. 2018 war sie noch stärkste Kraft im Lande. Wofür diese ­Internet-Partei wirklich steht, ist nicht klar.

Italiens Wahlkarte hat sich fast durchgehend braun gefärbt.

TRIO INFERNALE

Jetzt übernimmt also ein schreckliches Trio: ­Giorgia Meloni, Silvio Berlusconi mit seiner Konzernpartei Forza Italia und Matteo Salvini von der Lega. Europas Rechtsextreme jubeln, von Marine Le Pen in Frankreich über Ungarns Viktor Orbán und die polnische PiS bis zu Spaniens Vox und den Schwedendemokraten. Manche Kommentatoren heucheln Überraschung, denn Meloni hat ihre Stimmenzahl seit 2018 verfünffacht. Nur ist sie keineswegs vom Himmel gefallen, weiss die Faschismus-Historikerin und Genfer Nationalrätin Stefania Prezioso Batou: «Berlusconi und Salvini haben ihr den Weg ­bereitet.»

Tatsächlich hat der Medienmogul und verurteilte Betrüger Berlusconi (Prezioso: «Dr. Frankenstein») in den insgesamt neun Regierungsjahren seit 1995, in denen er Italien wie eine Firma führte und mit Bunga-Bunga-Klatsch zuschüttete, das Land gründlich ent­politisiert. Salvini, der vor drei Jahren noch als der kommende starke Mann erschien, hat als Innenminister den Rassismus im Lande entfesselt (so liebäugelte er etwa mit der Rassentrennung in Zügen).

NEUES BÜNDNIS GEGEN RECHTS

Heute aber hält Meloni das Heft fest in der Hand. Der senile und zur Mumie geliftete «Berlue» musste von seiner 34jährigen Partnerin gleichsam zu den Meetings getragen werden. Mit ihm wird auch Forza Italia verschwinden. Salvinis Wählerinnen und Wähler sind in Massen zu Meloni übergelaufen, sogar in den Lega-Stammlanden im Norden. Noch krallt sich Salvini am Vorsitz der Lega fest, doch der Macho ist geschrumpft. Meloni zu unterschätzen, wäre gefährlich, findet Geschichtsprofessorin Pre­zio­so Batou. Gewiss wird die Neofaschistin vorerst Kreide fressen, um die 180 Milliarden Euro Zuwendungen aus dem Wiederaufbauplan der EU nicht zu gefährden. Doch rasch werde Meloni im Sturmschritt zur Sache gehen: gegen die Abtreibung, gegen die Immigranten, gegen jede Form von Opposition. Und für eine neue, autoritäre Verfassung. Prezioso: «30 Jahre lang haben wir vor dem Wolf gewarnt. Jetzt ist er im Haus.»

Wie Prezioso möchte auch der grosse alte Denker Carlo Ginzburg den Begriff Faschismus nicht durch zu häufige Verwendung entwerten. Kurz vor der Wahl sagte er der französischen ­Publikation «Mediapart»: «Wir befinden uns nicht wortwörtlich im Faschismus, wie er historisch war.» Aber was er unter anderem in den USA und in Italien sehe, lasse nur eine Schlussfolgerung zu: «Der Faschismus hat Zukunft.»

Es sei denn, die italienische Gesellschaft widerlegt Ginzburg. Für den 8. Oktober ruft der Gewerkschaftsbund CGIL zur grossen Demo in Rom. Gar einen Generalstreik planen die gewerkschaftlichen Basiskomitees Cobas am 2. Dezember. Und CGIL wie Cobas mobilisieren gemeinsam mit der Klimajugend für harte Klima-Aktionen. Ein solches Bündnis gab es noch nie.


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