Jean Ziegler ‒ la suisse existe

Die gespenstische Stille

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Nach der Ermordung von Jesus Christus in Jerusalem soll der Apostel Johannes aus dem römisch besetzten Palästina geflohen sein. In einer Höhle auf der griechischen Insel Patmos schrieb er seine «Offenbarung». Laut Johannes wird der Teufel vier Mordgesellen aussenden, um die Welt zu verwüsten: den Hunger, die Seuchen, den Krieg und die Feuersbrunst.

«Diese Babys sind derart unterernährt, dass sie gar keine Kraft haben, um zu schreien.»

«TSUNAMI DES HUNGERS». Fast 2000 Jahre sind vergangen. Die Prophezeiung des Johannes bestätigt sich auf schreckliche Weise. António Guterres, der Generalsekretär der Uno, erklärte am 23. Juni: «Wir stehen an der Schwelle von Tsunami-Katastrophen des Hungers.»

Die kluge, energische Catherine Russell ist die Generaldirektorin des Uno-Kinderhilfswerks Unicef. Am 3. Juli berichtete sie in Zürich von ihrer langen Reise im Mittleren Osten und in Afrika. Im «Blick»-Interview sagte sie: «Stellen Sie sich vor, dass Sie in einer Klinik einen Raum mit Babys betreten. Und es herrscht – Stille. Totale Stille. Die Kinder machen keinen Lärm. Das ist gespenstisch, denn wir alle wissen, dass es in einem Raum mit vielen kleinen Kindern eigentlich nie ruhig ist. Aber diese Babys sind derart unterernährt, dass sie gar keine Kraft haben, um zu schreien. Dieses Erlebnis ist wie ein Albtraum, ich werde es nie vergessen.»

Die effizienteste Waffe der Unicef gegen den Hunger ist ein Riegel aus Erdnussbutter, angereichert mit Pflanzenöl und anderen Elementen. Auch schwerst unterernährte Kinder können mit diesen Riegeln ins Leben zurückgebracht werden. Die Stille in den von Russell besuchten Kinder­kliniken hat einen Grund: Es fehlen diese Riegel, das Budget der Unicef ist seit März erschöpft.

In ebenso verzweifelter Lage befindet sich das Welternährungsprogramm (WFP) der Uno. Allein die fürchterlichen Hungersnöte in Ost­afrika und dem Jemen übersteigen in diesem Jahr das WFP-Budget. Die Uno-Verantwort­lichen verlangten deshalb von den reichen Ländern eine sofortige zusätzliche Finanzierung von 22 Milliarden Dollar. Sie erhielten bisher Zusagen von knapp 4 Milliarden.

UKRAINISCHES GETREIDE. Der russische Präsident Wladimir Putin führt einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, den drittgrössten Getreideexporteur der Welt. Gemäss Uno be­­ziehen 45 Staaten in Afrika und dem Mittleren Osten mehr als ein Drittel ihrer benötigten ­Mengen an Weizen, Roggen und Mais aus der Ukraine. Der Ausfall dieser Importe bedeutet den Hungertod für viele Millionen. Das im letzten Monat vereinbarte Abkommen von Istanbul zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und der Uno soll ukrainische Getreide­exporte über geschützte Korridore im Schwarzen Meer wieder ermöglichen. Es wurde jedoch durch die rus­sische Bombardierung der Hafenstadt Odessa bereits sabotiert und betrifft zudem nur einen kleinen Teil der ukrainischen Ernte.

Welche Verantwortung haben wir in der schwerreichen Schweiz? Wir müssen unseren Bundesrat zwingen, die Beiträge an die Unicef und das Welternährungsprogramm massiv zu erhöhen.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam diesen Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.