Kolumbien wählt links! Auch dank Exil-Aktivistin Karmen Ramírez (50) aus Bern:

«Ich kann es noch kaum glauben!»

Jonas Komposch

Mit Ex-Guerrillero Gustavo Petro regiert in Kolumbien erstmals ein Linker. Seinen historischen Triumph hat er auch Karmen Ramírez aus Bern zu verdanken. Sie und er haben Grosses vor, aber nichts Revolutionäres.

GESCHAFFT! Karmen Ramírez (ganz rechts) feiert in Bern den historischen Sieg in ihrer Heimat. (Foto: Matthias Luggen)

Der Höhenflug von Karmen Ramírez (50) scheint unaufhaltbar. Im März wurde die Berner Exil-Aktivistin trotz Todesdrohungen ins kolumbianische Parlament gewählt – als erste linke Vertreterin der 6 Millionen Auslandkolumbianerinnen und -kolumbianer (work berichtete: rebrand.ly/todesdrohungen). Dann stürzte sich die dreifache Mutter und Feministin mit voller Wucht in den Präsidentschaftswahlkampf, tourte für Parteikollege Gustavo Petro (62) vom «Pacto Histórico» durch Spanien, Frankreich, Panama und die USA und sprühte dabei vor Optimismus. «Der 19. Juni wird unser Tag!» verkündete Ramírez im letzten work – und stellte damit ihr politisches Gschpüri unter Beweis. Petro räumte tatsächlich ab: 11,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger wählten ihn. So viele Stimmen hatte zuvor noch nie ein Präsident auf sich vereint. Und auch die Wahlbeteiligung war mit 58 Prozent die höchste seit 24 Jahren.

Entsprechend fidel ist Ramírez: «Ich kann es noch kaum glauben. Die erste linke Regierung! Ein historischer Wandel! Und ich bin Teil davon. Das ist mir eine riesige Ehre.» Und noch etwas freut die Bernerin. Die kolumbianische Diaspora in der Schweiz hat sich besonders deutlich für den Wandel ausgesprochen: Sechs von zehn Stimmen gingen hier an Petro und seine Stellvertreterin Francia Márquez. Auch ihre Wahl ist epochal. Die aus ärmsten Verhältnissen kommende Umweltaktivistin und Anwältin wird die erste schwarze Vizepräsidentin – dies in einem Land, in dem fast ein Viertel der Bevölkerung von afrikanischen Sklavinnen und Sklaven abstammt. Mit der Grösse des Erfolgs geht allerdings eine Herkulesaufgabe einher.

GENERAL DROHT

Karmen Ramírez sagt: «Petros grösste Herausforderung besteht darin, sich mit dem Establishment anzulegen.» Das sei nötig, weil ihm eine parlamentarische Mehrheit fehle, aber die versprochenen Reformen drängten. Petro will die privaten Pensionsfonds durch ein staatliches Rentensystem ersetzen, die Privatisierung des Gesundheitswesens stoppen, Militär und Polizei demokratisieren und fossile Brennstoffe durch Solarenergie ersetzen. All das wird bei den alten Eliten auf Widerstand stossen – und ist laut Ramírez ein risikoreiches Unterfangen: «Seit 200 Jahren herrschen dieselben Zirkel, und diese sind noch immer mit Paramilitärs und der Drogenmafia verbandelt. Die aktuelle Stabilität kann jederzeit explodieren.»

Tatsächlich eskalierte bereits mitten im Wahlkampf ein Streit mit General Eduardo Zapateiro, dem Oberkommandeur des Heeres. Dieser drohte, er werde Petro die Gefolgschaft verweigern. Doch laut Gerüchten will der General nun doch bloss zurücktreten statt rebellieren. Beschwichtigt haben dürften ihn schwergewichtige Gegner Petros, die dessen Sieg sofort anerkannten. So der unterlegene Gegenkandidat Rodolfo Hernández (77). Wegen seines Millionenvermögens aus der Bauwirtschaft, seines politischen Zickzackkurses und seiner Polterreden auf Tiktok wurde er als «Anden-Trump» gehandelt.

ANDEN-TRUMP GRATULIERT

Doch anders als das US-Original scheint Hernández auf Putschversuche zu verzichten. Er gratulierte Petro zum Sieg. Dies taten auch der amtierende Präsident Ivan Duque und sein Ziehvater, der einflussreiche Ex-Präsident Álvaro Uribe. Dass dieser den Volksentscheid offenbar vorbehaltlos respektiert, ist nicht selbstverständlich. Denn Petro ist nicht nur sein schärfster Kritiker, sondern bescherte ihm sogar einen Gerichtsprozess. 2005 deckte Petro auf, dass Uribe Wahlkampfgelder vom rechtsextremen Paramilitärverband AUC bezogen hatte. Und nur zwei Jahre später bewies er, dass ein Bruder Uribes bei der rechten Todesschwadron «Zwölf Apostel» mitmachte. Der Präsident beschimpfte den Enthüller darauf als «Terrorist in zivilem Gewand» – eine Anspielung auf Petros Jugend.

Als 17jähriger trat er der Guerrilla M-19 bei und überlebte Haft und Folter. Doch revolutionäre Absichten hegt Petro längst nicht mehr. «Heute müssen wir uns vergeben», sagte er an seiner Siegesfeier. Und auch wirtschaftlich kommt der studierte Ökonom seinen Widersachern weit entgegen: Er werde «die Produktion steigern», ja sogar «den Kapitalismus vorantreiben». Dies nicht, weil er diesen möge, sondern «um den Feudalismus zu überwinden». Man darf gespannt sein.

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