Linke «Pfadigruppe» wird 100jährig: work war auf Besuch
Wo die Roten Falken fliegen

1922 ­schlüpften die Roten Falken, die linke Alternative zu den Pfadfindern. Heute sind die ­Differenzen geringer, aber die Falken immer noch quicklebendig.

FRÖHLICHE VOGELSCHAR: Gruppenfoto der Falken im Auffahrtslager vor dem Lagerhaus Mösli ob Stallikon ZH. (Foto: Nicolas Zonvi)

Am Albis-Südhang ob Stallikon ZH thront auf einer sonnigen Waldlichtung ein wunderschönes Lagerhaus. Mösli ist sein bescheidener Name. Das versteckte Idyll scheint wie verlassen an diesem Auffahrtsmorgen. Nur ein paar Vögel zwitschern, und die Bienen summen. Dann plötzlich rumpelt’s im Mösli. Ein Volleyball fliegt zur Tür heraus. Hinterher stürmt eine laute Kinderschar. Fast wird der work-Journalist überrannt. Der Tatendrang ist offensichtlich riesig bei den Roten Falken, die hier im Auffahrtslager sind. Doch bevor Spiel und Spass beginnen, steht eine Vollversammlung auf dem Programm.

Helferin Anuska (22) erklärt: «Am Anfang von jedem Lager besprechen wir, was uns beim letzten Mal gestört hat und nach welchen Regeln wir leben wollen.» Die Roten Falken lassen sich nicht lange bitten.

Gewerkschafterin Anny Klawa-Morf gründete die erste Falken-Sektion in der Schweiz.

BEFÄHIGEN STATT BEFEHLEN

Leo (15) ergreift das Wort: «Es nervt, wenn am Abend alle am Smartphone kleben.» Da brauche es klare Regeln. Jaromir (11) pflichtet ihm bei, denn: «Eine Stunde vor Schlaf sollte man sowieso nicht mehr ins Handy glotzen!» Doch Wilma (8) meint: Manche würden zum Einschlafen jeweils gerne eine Gutenachtgeschichte hören. Die Runde gibt Wilma recht. Nach kurzer Diskussion finden die Kinder einen Kompromiss: Wer sein Handy checken will, muss dafür künftig in einen separaten Raum. Und für die Gutenachtgeschichte müssen Kopfhörer benutzt werden.

GESUNDE ERHOLUNG

Nicht nur die Lagerregeln handeln die Roten Falken gemeinsam aus. Auch die Verteilung der Küchen-Ämtli – gekocht wird vegetarisch. Das beschliesst die Gruppe kollektiv, und teils sogar das Tagesprogramm. Dazu die Falken-Älteste Anuska: «Uns ist es wichtig, die Kinder in ihrer Integrität und Eigenständigkeit ernst zu nehmen und zu respektieren.» Ausserdem wolle man die Kinder nicht «anführen», sondern befähigen, selbständig und solidarisch zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.

Ganz ohne Autorität geht es allerdings nicht immer, denn Sicherheit geht vor. Ansage von Helfer Michi (24): «Die wichtigste Mösli-Regel: Niemand geht alleine zum Pool!» Ein Pool beim Lagerhaus? Über diesen Luxus verfügen die Falken tatsächlich. Wobei der Falken-Pool kein gewöhnliches Chlorbecken ist. Sondern ein grosszügiges Schwimmbassin mit Frischwasserzufuhr aus einer Waldquelle. Natur pur! Und das hat mit der bewegten Falken-Geschichte zu tun.

Das «Kinderfreundeheim Mösli» wurde nämlich schon 1931 errichtet – mitten in einer wirtschaftlichen Krisenzeit mit hoher Arbeitslosigkeit. Beim Bau hatten Hunderte Frauen, Männer und Jugendliche mit angepackt. Sie alle waren Teil der Zürcher Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Und sie hatten ein gemeinsames Ziel: den städtischen ­Proletarierkindern einen gesunden Erholungsort im Grünen zu schaffen – und endlich auch ein Stammhaus für das Vereinsleben.

Schon 1922 hatte die umtriebige Reformpädagogin und Gewerkschafterin Anny Klawa-Morf die erste Schweizer Falken-Sektion gegründet. Das war in Bern, wo Klawa-Morf nach ihrer Teilnahme an der Münchner Räterepublik hingezogen war. Gleichzeitig entstanden Falken-Gruppen in anderen Ländern Europas, allen voran in Österreich. Und bald hatte auch Zürich eine Ortsgruppe. Dort hatte Klawa-Morf schon früh Vorarbeit geleistet: 1910, noch als 16jährige Textilarbeiterin, rief sie die erste sozialistische Mädchengruppe der Schweiz ins Leben.

Die Roten Falken wiederum konzipierten sich als linke Alternative zum christlichen Cevi und zur bürgerlichen Pfadfinderbewegung. Diese verstand sich als vormilitärisches Jugendwerk und nahm nur Buben auf. Anders die Roten Falken: Sie förderten von Beginn an die Gleichberechtigung. Und soldatischem Drill und Militarismus setzten sie die Prinzipien der Solidarität und der Völkerfreundschaft entgegen. Heute sind die Differenzen weniger gross. Pfadi & Co. haben viele Falken-Werte übernommen. Und trotzdem ist das Original noch immer etwas Einmaliges.

LINKE BALLADEN

Das zeigt sich im Mösli deutlich. Nach einem Volleyball-Match greift Helfer Michi zur Gitarre und eröffnet die Gesangsrunde. Das erste Stück: «Ballade für Sacco und Vanzetti» von Joan Baez, ein Gewerkschafts-Evergreen! Dann wünschen die Kinder etwas Fetziges, nämlich «Baggerführer Willibald», «Bella Ciao» und das «Jalava-Lied», allesamt Klassiker des so­zialistischen Liedguts. Und auch «Arbeiter von Wien» oder «Bread and Roses» stehen hoch im Kurs. Und klingen entsprechend (Hörproben oben).

Das Politische verwechseln die Falken aber nicht mit Folklore. Die Songtexte etwa geben Anlass zu regen Diskussionen und kritischen Fragen. Und überhaupt machen die Kinder einen aufgeweckten Eindruck. Helferin Anuska bestätigt: «Als wir während der Pandemie einmal Wegwerfbecher aus Plastic mitbrachten, kassierten wir dafür prompt einen Rüffel.» Umweltschutz sei generell ein ganz grosses Anliegen. Aber auch Kriege beschäftigten wieder vermehrt. Dabei wissen die Falken genau, was sie wollen: «Brot und Friede statt Not und Kriege!» skandierten die Kinder am 1. Mai. Eine Parole wie vor hundert Jahren – und trotzdem hochaktuell. Typisch Rote Falken halt!


Heinz Dreyer (83): «Es war schaurig lustig dort!»

Heinz Dreyer entdeckte die Roten Falken als sechs­jähriger Bub – kurz nach
dem Zweiten Weltkrieg.

Unia-Mitglied und Ex-Falke Heinz Dreyer. (Foto: ZVG)

Global sind die Roten Falken gut aufgestellt: 45 Kinder- und Jugendorganisationen aus Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika und dem Nahen Osten sind Teil der Interna­tionalen Falkenbewegung. In der Schweiz gibt es allerdings nur noch rund hundert Aktive in den Städten Bern und Zürich. Anders war das 1945, als Heinz Dreyer (heute 83, damals 6) zu den Falken stiess. 3000 Mitglieder gab es in der Schweiz. Und fast jeder ­Industrieort hatte eine Sektion. Mindestens eine, wie Dreyer sagt: «In Zürich hatten wir sogar in jedem Stadtkreis eine Gruppe!» Ein Grössenunterschied mit historischen Ursachen: Der unterdrückte Landesstreik von 1918 vergrösserte die Gräben in der Gesellschaft. Die Bürgerlichen wollten nichts mehr wissen von den «Roten». Und umgekehrt hatten auch die Linken keine Lust mehr auf die «Spiessbürger» und ihre Vereine. Daher schossen Arbeitervereine wie Pilze aus dem Boden: Arbeiter-Schützenverein, ­Arbeiter-Radfahrerbund, Arbeiter-­Jodler, Arbeiter-Schach-Club … und auch die Roten Falken waren Teil dieser Kultur. Aber fürs Mitmachen gab es auch «banale Gründe», wie Dreyer sagt.

«Wir waren für ein gleichberechtigtes Miteinander.»

Als Linkshänder sei er häufig gehänselt worden, aber nie bei den «Nestfalken», wie die ganz jungen hiessen. Und: «Es war einfach immer schaurig lustig dort!» Später habe er diese Atmosphäre noch mehr schätzengelernt: «Bei den Falken wurde man nicht ständig gemassregelt, sondern unterstützt. Und mitbestimmen durfte man!» Dass dies nicht selbstverständlich war, sei ihm jeden Samstag vor Augen geführt worden.

SHOWDOWN AM ALBISGÜTLI. Beim Zürcher Albisgütli besammelten sich nämlich nicht nur Falken, sondern auch Pfadfinder und Kadetten. Dreyer erinnert sich genau: «Die Pfader mussten in Kolonne antreten, die Kadetten sogar in Achtungsstellung mit Gewehr!» Für Dreyer ein Graus: «Wir waren für ein gleichberechtigtes Miteinander und nicht für Strammstehen und Gehorsam.» Die Unterschiede zeigten sich auch in den Begriffen: Das Falken-Hemd hiess nicht «Uniform», sondern «Übergwändli». Wie jenes der Arbeiterinnen und Arbeiter war es blau. Und während die Verantwortlichen bei den Falken schon damals «Helferinnen und Helfer» hiessen, waren es bei der Pfadi «Führer». Bei diesem Wort sträuben sich bei Dreyer noch heute die Nackenhaare: «Vom Führer hatten wir mehr als genug!» Auch ein «Gelöbnis» legte Dreyer nicht ab. Ein «Versprechen» gab er aber. Noch heute kann er es auswendig: «Ich bin ein Kind des arbeitenden Volkes und will mich immer dazu bekennen. Ich will übernommene Pflicht gegenüber dieser Gemeinschaft treu erfüllen.» Dreyer lernte Schreiner, wurde aktiver Gewerkschafter und ist Unia-Mitglied.