USA: 99 Jahre Gefängnis wegen Abtreibung

Kreuzzug gegen die Frauen

Oliver Fahrni

Das oberste US-Gericht will abtreibende Frauen zu Verbrecherinnen machen. Und das steckt dahinter.

GEBALLTE WUT: Tausende demonstrieren am 14. Mai in San Francisco gegen die Verschärfung des Abtreibungsverbots, das die Ultrarechten und Ultrareligiösen gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchpeitschen wollen. (Foto: Keystone)

19 erschossene Schulkinder: Ukraine? Nein, USA. Amerika führt Krieg gegen sich selbst. Alle paar Tage begeht dort ein Rassist oder ein anderer Irrer einen Massenmord. Das zieht die Aufmerksamkeit von einem anderen Wahnsinn ab, der die USA einen grossen Schritt näher an einen rechtsextremen Gottesstaat bringt: Die Frauen in den USA verlieren gerade das Recht, über ihren eigenen Körper zu verfügen. Wer eine Schwangerschaft abbricht (was seit 1973 legal war), kann künftig in manchen Bundesstaaten mit bis zu 99 Jahren Gefängnis bestraft werden, teilweise sogar nach Vergewaltigungen.

Der Streit um Demokratie und Gerechtigkeit …

TRUMPS TRUMPF

Das ist ein später Sieg des abgewählten Präsidenten Donald «Pussy-Grapscher» Trump. Zwar zeigen alle Umfragen, dass eine starke Mehrheit der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner Abtreibungen billigt. Aber das kümmert das oberste US-Gericht nicht. Sechs der neun Richter und Richterinnen wollen das Verbot dieser Tage definitiv beschliessen, auch Richterin Amy Coney Barrett. Sie ist eine katholische Fundamentalistin und ultrarechte Südstaatlerin, die Trump ins Amt gehievt hatte, als Richterin Ruth Bader Ginsburg 2020 starb. Ginsburg war eine liberale Vorstreiterin für die Rechte der Frauen und der Minderheiten gewesen.

Entworfen hat den Rechtsspruch ­Samuel Alito. Abtreibung, sagte er, könne nicht legal sein, weil sich darüber in der US-Verfassung leider kein Wort finde. Ein heuchlerisches Argument. Denn in der Verfassung, die 55 Männer im Jahr 1787 aufgeschrieben hatten, findet sich auch sonst kein Wort über Frauen. Sie kommen gar nicht vor. Wen wundert’s, denn weder in der verfassunggebenden Versammlung sass eine einzige Frau noch in den Parlamenten der Bundesstaaten. Die Frauen hatten weder Wahl- noch Stimmrecht. «We the people», schrieben die Verfassungsväter und meinten damit: «Wir, die weissen Männer».

Dahin möchten Alito und die Mehrheit der obersten Richter wohl zurück. Bereits haben 20 Bundesstaaten Gesetze ­vorbereitet, die den Schwangerschafts­abbruch zum Verbrechen erklären. Dann werden wohl wieder Tausende von Frauen in Hinterzimmern von «Engelmachern», bei Do-it-yourself-Abtreibungen oder an Komplikationen sterben. Ungezählte Frauen werden über einer unerwünschten Schwangerschaft in existentielle Not ­geraten. Nur die Privilegierten, die über reichlich Geld und Beziehungen verfügen, werden in Staaten mit liberalen Abtreibungsgesetzen (etwa nach Kalifornien) ausweichen können.

… wird am Körper der Frauen ausgetragen.

ANGRIFF AUF DIE DEMOKRATIE

Ob die obersten Richter es mit der Abtreibung bewenden lassen, weiss niemand. Denn von Schwangerschaftsverhütung oder gleichgeschlechtlicher Ehe steht auch nichts in der Verfassung. Erst recht kein Wort über eine Reichensteuer oder soziale Gerechtigkeit. Das Wahlrecht der ärmeren US-Bevölkerung haben diese Richter schon 2013 ausgehöhlt. Das oberste Gericht ist mit beträchtlicher Macht ausgestattet und damit ein Treiber der Konterrevolution in den USA geworden.

Sein Abtreibungsverbot steht am Ende einer 30jährigen Kampagne, die Katholiken und Evangelikale gegen die Rechte der Frauen führen. Mit allen politischen und juristischen Mitteln, aber auch mit Terror gegen Kliniken, Patientinnen und Ärzte.

Sie nennen es einen «Kulturkampf». Das Wort täuscht. Um Ethik oder die «christliche Identität» der USA ging es in Wahrheit nie. Kreuzzügler gegen die Abtreibung wie Jerry Falwell, Bob Jones oder Paul Weyrich verteidigten jahrelang das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Lieber kämpften sie gegen die Gleichstellung der Schwarzen und gegen Bürgerrechte allgemein. Erst als sie damit in die Defensive kamen, zogen sie die Karte Abtreibung: So wird einmal mehr der Streit um demokratische Rechte und soziale Gerechtigkeit auf dem Buckel, also am Körper der Frauen, ausgetragen. Vor allem weisser Frauen übrigens: Die vollziehen 60 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche in den USA.

Die radikalisierten Christen sind dabei nur die Vorhut, die nützlichen Idioten einer erstarkenden neu­faschistischen Bewegung, die (nicht nur in den USA) die Demokratie attackiert. Ihre Kennmarken sind weisser Rassismus und Männlichkeitswahn. Trump ist eines ihrer Produkte. Die Financiers dahinter, Banker, Öl-Oligarchen und neue Milliardäre wie der Daten-Kapitalist Peter Thiel («Palantir») oder die Gebürder Koch fürchten Umverteilung, einschneidende Umweltgesetze und die Demokratie.

Wie sagt die amerikanische Denkerin Nancy Fraser: «Wollen Feministinnen die kommenden Desaster abwenden, müssen sie Gleichstellung, das Soziale, Antirassismus und Ökologie zusammendenken.»

Frauenrechte: Der Westen baut ab

Gerade eben wurde die Fristenlösung in der Schweiz 20jährig. Das Problem Schwangerschaftsabbruch schien gelöst, wenigstens in Europa und in den USA. Man zeigte mit dem Finger auf islamische Regierungen, auf Afrika, die Philippinen, El Salvador, Nicaragua und Honduras. 2012 starben weltweit 47 000 Frauen bei Abtreibungen (WHO). Doch nun lässt Argentinien Abtreibungen zu, Kolumbien zog nach, und Chile wird es bald tun.

AUCH IN EUROPA. Heute rollen die schärfsten Angriffe gegen sämtliche Frauenrechte in den USA und in Europa, überall dort, wo die Rechtsextremen stark sind. Polen hat die Gesetze massiv verschärft, in Italien finden sich für eine Abtreibung kaum noch Ärztinnen und Ärzte, in Frankreich hat nur schärfster Widerstand der Frauen den Umsturz verhindert. Bisher.

1 Kommentar

  1. Beat Hubschmid

    Wieso dürfen eigentlich Muslimas NICHT abtreiben???

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