Kolumbien: Bernerin Karmen Ramírez mischt die Wahlen auf

Auch Todesdrohungen halten sie nicht auf

Jonas Komposch

Wegen Morddrohungen floh Karmen Ramírez (50) von Bogotá nach Bern. Jetzt wurde die mutige Exil-Aktivistin ins kolumbianische Parlament gewählt. Und sie legt sich weiter ins Zeug – für die erste Links­regierung seit 200 Jahren!

FRAU MIT MUT: Karmen Ramírez kämpft für die Rechte der Frauen und Indigenen und musste deshalb aus Kolumbien flüchten. Jetzt wurde sie dort ins Parlament gewählt. (Foto: Getty)

Es war ein Triumph der Extraklasse, und trotzdem hat kein einziges Schweizer Medium dar­über berichtet: Im März wurde die im Berner Exil lebende Menschenrechtsaktivistin Karmen Ramírez (50) ins kolumbianische Parlament gewählt. Dort vertritt sie fortan die Interessen der kolumbianischen Diaspora. Über 5 Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer leben im Ausland. Das entspricht mehr als zehn Prozent aller Staatsangehörigen. Jährlich 8,5 Milliarden Dollar Devisen schicken sie in ihre Heimat. Doch im Parlament ist ihnen bloss ein einziger Sitz reserviert. Und der war seit je von weissen rechten Männern besetzt – mit der kurzen Ausnahme einer konservativen Kandidatin des ­Militärs.

Dann trat plötzlich Karmen Ramírez auf den Plan. Sie flüchtete 2009 wegen Todesdrohungen in die Schweiz und blieb der Liebe wegen in Bern (siehe Spalte rechts). Ramírez gehört zum indigenen Volk der Wayuu. Sie ist eine mutige Feministin, Umweltschützerin und Kämpferin gegen Unterdrückung und Ausbeutung, dazu Mutter von drei Kindern, Schrift­stellerin, Reinigungsarbeiterin und Köchin. Prompt räumte Ramírez bei den Wahlen ab – und der bisherige Amtsinhaber seinen Sessel. Ramírez sagt zu work: «Nie und nimmer» habe sie mit dem Sieg gerechnet. Ihr sei es vor allem um ein Zeichen gegangen: «Ich wollte uns Frauen mehr Sichtbarkeit verschaffen – und zwar in unserer ganzen Diversität.» Das kam an. Denn spätestens seit den massiven Sozialprotesten und Generalstreiks des letzten Jahres weht der neoliberalen Männerelite ein eisiger Wind entgegen.

«Mit diesem Sieg habe ich nie und nimmer gerechnet!»

KAPO BERN ERMITTELT

Gar keine Freude an Ramírez’ Kandidatur hatte daher die kolumbianische Ultrarechte. Diese drangsalierte die Bernerin sogar mit klassischen Mafia-Methoden.

Es geschah am 21. Oktober 2021 während ­eines Zoom-Meetings von Schweizer Exil-Kolum­bianerinnen: Plötzlich taucht ein Hacker auf dem Bildschirm auf. «Sólo Uribe!» schreit er, also «nur Uribe!». Gemeint ist Álvaro Uribe, der schwerreiche und fanatisch rechte Ex-Präsident Kolum­biens mit nach wie vor besten Verbindungen zu den innersten Regierungszirkeln und Paramilitärs, ausserdem erklärter Gegner des historischen Friedensvertrags mit der einstigen Guerrilla Farc. Dann droht der Hacker mit Gewalt, nennt mehrere Sitzungsteilnehmende beim Namen und sagt ihre Schweizer Wohnorte auf. Das belegt ein Videomitschnitt, der work vorliegt. Besonders Karmen Ramírez hat der Unbekannte im Visier. Ihr sagt er: «Hör zu! Du hast Mann und Kinder, also viel zu verlieren!»

Später erhält Ramírez ein SMS mit der Aufforderung, ihre Kandidatur sofort aufzugeben, wenn ihr das Leben lieb sei. Das aber tat sie nicht, sondern erstattete Anzeige bei der Berner Kantonspolizei. «Die Ermittlungen kommen voran», sagt Ramírez, «doch der Täter ist noch auf freiem Fuss.» Und noch während work mit ihr spricht, erreicht sie schon die nächste Hiobsbotschaft.

ROHSTOFFREICH: In der Region La Guajira, Kolumbien, liegt die grösste Kohlemine Lateinamerikas. (Illu: Adobe Stock)

BRUDER IN GEFAHR

Ihr Bruder Miguel Ramírez meldet sich aus der Region La Guajira, dem nördlichsten Zipfel ­Kolumbiens, wo der Zuger Bergbaukonzern Glencore die grösste Kohlemine Lateinamerikas betreibt – mit verheerenden Folgen für Natur, Anwohnende und Staatshaushalt. Miguel Ramírez ist einer der prominentesten Gegner des Bergbauprojekts – und hat jetzt böse Nachrichten: Am 6. Juni erhielt er einen Anruf des «Golf-Clans», der mächtigsten Verbrecherbande des Landes. Ein Clan-Mitglied eröffnete ihm, dass er ihn bald zum «militärischen Ziel» erklären werde. Es ist bereits die dritte Todesdrohung gegen Carmens Bruder binnen weniger Monate.

Die ersten Drohungen kursierten in Form von Online-Steckbriefen. Für diese zeichneten die «Águilas Negras» verantwortlich, ein rechter paramilitärischer Verband, der hauptsächlich im Kokainhandel tätig ist. Er hat Miguel Ramírez zur Zielscheibe erklärt, weil er für den sozialen Wandel steht. Und von einem Wandel wollen die kriminellen Banden gar nichts wissen.

Denn das Drogengeschäft läuft geschmiert wie noch nie. Laut US-Behörden wird in Kolumbien dreimal mehr Kokain hergestellt als noch vor zehn Jahren. Und auch sogenannte Sicherheitsdienstleistungen für Rohstofffirmen, Agrarkonzerne oder Grossgrundbesitzer spülen bewaffneten Gruppen noch immer reichlich Geld in die Kassen. Und diese Kreise sind nun zusätzlich nervös, weil ihnen bei den Präsidentschaftswahlen vom 19. Juni eine historische Niederlage droht.

In der Stichwahl tritt nämlich Gustavo Petro (62) von der Linkspartei «Colombia Humana» an. Als Jugendlicher war Petro bei der Stadtguerrilla M-19, startete dann eine parlamentarische Karriere und brachte es bis zum Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá. Zusammen mit der afrokolumbianischen Umweltaktivistin Francia Márquez (40) als Vizekandidatin machte er in den Vorwahlen das mit Abstand beste Resultat. Dies mit einem Programm des ökosozialen Umbaus, der Stärkung des Friedensprozesses und der Geschlechtergerechtigkeit. Sein letzter Kontrahent ist nun der parteilose Polterer, Multimillionär und Immo-Tycoon Rodolfo Hernández (77). Ein politisches Programm hat er nicht, dafür einen Tiktok-Kanal.

TIKTOK-OPA SPINNT

Dort verkündete der selbsternannte «Tiktok-Opa» grossmaulig, im Falle seiner Wahl sofort den Ausnahmezustand zu verhängen und «alle Korrupten» ins Gefängnis zu stecken. Solche An­sagen finden im armutsgebeutelten Volk viel ­Anklang, insbesondere aber bei der rechten Macht­elite, die Hernández nach anfänglicher Zurückhaltung voll unterstützt. Schliesslich will sie um jeden Preis verhindern, dass die Republik Kolumbien nach 200 Jahren erstmals von einem Linken regiert wird. Bei Redaktionsschluss (15. Juni) deuten alle Prognosen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Daher ist auch Carmen Ramírez voll im Wahlkampfmodus – und dies seit ­Wochen! Bereits hat sie die kolumbianischen Communities von Paris, Panama City, Madrid, Barcelona und Valencia abgeklappert. Und aktuell wirbt sie in New York um die letzten Stimmen für den Parteikollegen Petro. Doch die Bernerin ist überzeugt: «Der 19. Juni wird unser Tag!»


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