Eine kleine Geschichte des Lohnausgleichs:

Teuer, teurer, Teuerungsausgleich!

Ralph Hug

Die ­Teuerung war lange kein Thema. Doch jetzt ist sie zurück. Und mit ihr auch der Kampf um den Teuerungs­ausgleich.

WENN BROT UND MILCH IMMER MEHR KOSTEN: Die obere Linie zeigt die Teuerung, die untere den Lohnausgleich. Die Illustration stammt vermutlich aus den 1930er Jahren. (Foto: Sozialarchiv/BESTAND VHTL)

Wir erleben einen Umbruch. Vierzehn Jahre lang hatten wir keine Teuerung. Jetzt gibt es erstmals seit 2008 wieder eine Inflation von mehr als zwei Prozent. Plötzlich wird der Ausgleich der Teuerung bei den Löhnen wieder wichtig. Ohne den würde die Kaufkraft der Beschäftigten schnell sinken (siehe Seite 9).

DURCHBRUCH IN DEN 1950ERN

Jahrzehntelang gehörte der Kampf um den Teuerungsausgleich zu den wichtigsten Aufgaben einer Gewerkschaft. Der Durchbruch gelang in den 1950er Jahren: Erstmals konnte der Teuerungsausgleich in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) verankert werden. Damit war er als fester Bestandteil der Lohnfindung etabliert. Eine grosse soziale Errungenschaft: Sie verhinderte Arbeitgeberwillkür und das langsame Abrutschen der Löhne unter den gesamtarbeitsvertraglich geschützten Bereich. War 1957 in 17 Prozent der GAV der Teuerungsausgleich erwähnt, stieg dieser Anteil in den folgenden drei Jahrzehnten auf 68 Prozent. Laut einer Studie von Daniel Oesch, früherem Ökonomen beim Gewerkschaftsbund und jetzt Professor an der Uni Lausanne, enthielten im Jahre 1991 zwei Drittel ­aller GAV eine Teuerungsklausel. Hinzu kam eine weitere Errungenschaft, nämlich der automatische Teuerungsausgleich.

1991 enthielten zwei Drittel aller GAV eine Teuerungsklausel.

BRUCH IN DEN 1990ERN

Doch die 1990er Jahre brachten auch einen grossen Bruch. Vor dem Hintergrund der Deregulierungswelle erklärten die Arbeitgeber den Teuerungsausgleich plötzlich für gestorben. Oder sie drängten ihn aus den Branchen-GAV hin­aus. Fortan sollten die Löhne nur noch betriebsweise ausgehandelt werden, so etwa in der Maschinen- und Metallindustrie. In den Betrieben sahen die Unternehmer mehr Chancen, ihre Macht gegen die Personalkommissionen auszuspielen. Der Angriff zielte vor allem auf den automatischen Teuerungsausgleich. Ihn wollten die Unternehmer unbedingt los werden, um sich die Mittel selber oder ihren Aktionärinnen und Aktionären in die Tasche zu stecken.

GEGEN LOHNERHÖHUNGEN

Dabei kamen ihnen die tiefen Inflationsraten gerade recht. Dagegen hatten es die Gewerkschaften in den 1970er Jahren mit ihrer hohen Inflation noch leichter gehabt, den Teuerungsausgleich durchzusetzen. «In nur drei bis vier Jahren verschwand der automatische Teuerungsausgleich fast komplett aus den GAV», hielt Oesch in der erwähnten Studie fest. Stets solide verankert war dieser Schutz nur im Landesmantelvertrag des Baugewerbes.

Auch generelle Lohnerhöhungen waren den Patrons ein Dorn im Auge. Sie wollten fortan nur noch individuelle und sogenannt leistungsbezogene Anpassungen gewähren – und zwar gerade so, wie es ihnen passte. Eine Strategie, die sie bis heute durchzieht. So wurden letztes Jahr laut dem Bundesamt für Statistik lediglich 21 Prozent der in den GAV für Lohnerhöhungen bestimmten Summe gleichmässig an die Beschäftigten verteilt. 79 Prozent wurden individuell ausbezahlt. Dieser Verschlechterung konnten die Arbeitnehmenden lange Zeit wenig entgegensetzen, der Trend war zu stark. Spektakulär war daher der Abschluss eines neuen GAV in der Maschinen- und Metallindustrie im Jahr 2018. Nach mehrjährigen harten Verhandlungen gelang es der Unia, den automatischen Teuerungsausgleich für Mindestlöhne hineinzuschreiben.

DER KAMPF GEHT WEITER

Wenn die Konsumentenpreise jetzt wieder deutlich anziehen, ist absehbar, dass der Teuerungsausgleich in den nächsten Lohnverhandlungen zum grossen Thema wird. Wie in früheren Zeiten. Und auch die Teuerungsklausel – sofern nicht vorhanden – droht in den GAV-Verhandlungen wieder zum Kampffeld zu werden. Alles spricht dafür, dass die Nullteuerungsphase definitiv vorbei ist. Die USA ächzen bereits jetzt unter einer hohen Inflation von über 8 Prozent. Die deutsche Bundesbank rechnet mit einer Rate von 7 Prozent für das laufende Jahr 2022.

AUCH BEI DEN RENTEN

Der Gewerkschaftsbund hat den Chefinnen und Chefs bereits signalisiert, dass der Wind gedreht hat. An der letzten Versammlung Anfang Mai forderten die SGB-Delegierten generelle Lohnerhöhungen mit Teuerungsausgleich und einen Reallohnzuwachs als Beteiligung an der guten Wirtschaftsentwicklung. Die Teuerung soll aber nicht nur bei den Löhnen voll ausgeglichen werden, sondern auch bei den Renten, und zwar sowohl bei der AHV (wo es nur alle paar Jahre eine Anpassung gibt) als auch bei den Pensionskassen.

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