Nach der vierten Verhandlungsrunde zwischen Kiew und Moskau:

Kann dieser Krieg noch gestoppt werden?

Andreas Zumach

Am 29. März trafen sich ukrainische und russische Verhandlungsdelegationen in Istanbul. Und verhandelten konkreter und detaillierter.

SCHUTT UND ASCHE: Nach einer Bombardierung der ukrainischen Stadt Charkiw. Von den Gebäuden, die ins Visier der russischen Armee geraten, bleiben nur noch Trümmerhaufen übrig. (Foto: Eddy Van Wessel)

Gibt es noch Chancen, den Krieg Russlands gegen die Ukraine möglichst bald durch eine Vereinbarung zwischen den Regierungen beider Länder zu beenden? Und damit noch mehr ­Todesopfer, Verletzte und Zerstörungen zu verhindern?

Bei Redaktionsschluss dieses Artikels, am 29. März, war die vierte direkte Verhandlungsrunde seit Kriegsbeginn zwar erneut ohne konkrete Ergebnisse zu Ende gegangen. Sie hatte auf Einladung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul stattgefunden. Offenbar bestand auch keine Bereitschaft zu einer Waffenruhe, wenigstens während der Dauer dieser Gespräche.

Ein Sprecher des Militärministeriums in Moskau erklärte: «Die russischen Streitkräfte setzen die militärische Spezialoperation fort.» Keine solche Erklärung gab die Regierung in Kiew ab. Dennoch setzten die ukrainischen Streitkräfte ihre Angriffe auf russische Inva­sionstruppen fort. Doch offensichtlich wurde bei dieser vierten Verhandlungsrunde konkreter und detaillierter als zuvor über mögliche Inhalte und Eckpunkte einer politischen Vereinbarung diskutiert, die vielleicht zur Beendigung des Krieges führen könnte.

Ein zentraler Punkt ist der künftige Status der Krim.

NEUTRALITÄTSSTATUS

Die ukrainische Delegation machte nach An­gaben eines Sprechers neue Vorschläge für ­die von der Regierung in Kiew für unverzichtbar erklärten Sicherheits- und militärischen Beistandsgarantien, unter denen sie sich auf ­einen Neutralitätsstatus der Ukraine einlassen würde. Als einer der möglichen Hauptgaranten gelte die Türkei, erklärte der Sprecher. Zu weiteren Ländern, die der Ukraine Sicherheitsgarantien geben könnten, könnten Israel, Polen und Kanada gehören. Letzte Woche hat Präsident Wolodimir Selenski auch die USA und Grossbritannien genannt. Erst wenn ein verlässliches System von Sicherheitsgarantien stehe, werde die Ukraine einem neutralen Status zustimmen.

Zu diesem Status gehöre auch der Verzicht der Ukraine auf ausländische Militärstützpunkte auf ihrem Territorium. Sowie die Bekräftigung eines dauerhaften Verzichts auf Atomwaffen. Grundvoraussetzung sei aber eine Abstimmung der ukrainischen Bevölkerung über die Bedingungen eines Abkommens mit Russland. Zudem müsse vor Inkrafttreten eines finalen Abkommens auf dem gesamten Gebiet der Ukraine wieder Frieden herrschen.

Laut dem Delegationssprecher hat die ­Ukraine Russland auch vorgeschlagen, beide Seiten sollten sich bis zu 15 Jahre nehmen für Beratungen über den künftigen Status der Krim. Diese hatte Russland 2014 ebenfalls völkerrechtswidrig annektiert. Das dürfte in Russland nicht gut ankommen. Denn die Regierung Putin verlangte bislang, dass die ukrainische Regierung endgültig anerkennen solle, dass die Krim zu Russland gehöre.

Die Ukraine warte nun auf die russischen Antworten, erklärte der Delegationssprecher. Man sei zudem der Ansicht, dass es jetzt genug Fortschritte gebe für ein persönliches Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Wolodimir Selenski.

WENN ALLE STRICKE REISSEN

Der russische Chefunterhändler Wladimir ­Medinski äusserte sich zwar nicht zu Inhalten und Details dieser vierten Verhandlungsrunde, bezeichnete sie aber als «konstruktiv». Die Vorschläge der Ukraine würden nun geprüft und dann Präsident Putin übermittelt. Ein Treffen Putins mit Selenski sei aber erst möglich, wenn zuvor eine Vereinbarung zwischen den Aussenministern beider Länder erzielt worden sei.

Sollte keine Kompromissvereinbarung zwischen Kiew und Moskau zustande kommen, sind mehrere Szenarien zumindest theoretisch denkbar, die in kürzerer oder auch längerer Frist zu einem Ende des Krieges führen könnten:

  • Präsident Putin könnte durch verschiedene Akteure von der Macht verdrängt werden. Sehr unwahrscheinlich ist, dass diese Ablösung durch einen oder mehrere der sechs Männer erfolgt, die den inneren Machtzirkel um Putin bilden. Vergleichsweise weniger unwahrschein­lich wäre eine Absetzung Putins durch Oligarchen. Diese fürchten angesichts der westlichen Wirtschaftssanktionen nämlich um ihre Pfrün­de, Privilegien und künftigen Profite.
  • Nicht völlig auszuschliessen ist auch, dass die Sanktionen des Westens zu einem Aufstand aus der zunehmend notleidenden Bevölkerung gegen Putin führen könnte.
  • Eine Kapitulation der ganzen Ukraine oder auch nur einzelner Städte wie Mariupol wird bislang von der Regierung in Kiew rigoros ausgeschlossen. Stattdessen nährt die Regierung mit Durchhalteparolen und ermutigt durch die westlichen Waffenlieferungen die Hoffnung auf einen militärischen Sieg. Ein solcher Sieg ist angesichts der haushohen Überlegenheit der russischen Streitkräfte – und trotz den offensichtlichen Problemen ihrer Bodentruppen – zwar sehr unwahrscheinlich. Doch vorstellbar ist, dass die ukrainischen Streitkräfte mit Hilfe der westlichen Waffenlieferungen nach weiteren wochen- oder gar monatelangen, verlustreichen Kämpfen mit grossen Opfern unter der Zivilbevölkerung eine militärische Patt­situation erreichen. Das würde die Position der Ukraine am Verhandlungstisch stärken. Möglicherweise verfolgt Selenski genau dieses Kalkül. Und möglicherweise lässt auch Putin nur zum Schein verhandeln – und ist nicht bereit, von seinen zu Kriegsbeginn formulierten Maximalforderungen abzurücken.
Andreas Zumach (67) ist Journalist und Publizist. Von 1988 bis 2020 war er Schweiz- und UN-Kor­respondent für die deutsche «tageszeitung» (taz) mit Sitz am euro­päischen Hauptsitz der Vereinten Nationen in Genf. Heute lebt er ­in Berlin und arbeitet als freier Journalist für verschiedene Medien.

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