Spanien: Tausend Tage Streik bei Apotheken-Zulieferer Novaltia

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt

Ralf Streck*, Bilbao

Seit fast drei Jahren befinden sich die Mitarbeitenden der Pharma-Logistikfirma Novaltia im baskischen Bilbao im Streik. Jetzt gibt ihnen ein ­Gerichtsurteil neue Hoffnung auf Erfolg.

NOVALTIA-MITARBEITENDE IM STREIK: «Ein Paracetamol ist mehr wert als ein Mitarbeiter», steht auf dem Schild links, und rechts: «Novaltia will nicht verhandeln». (Foto: ZVG)

Ein lauer Frühlingswind weht durch Bilbao, doch über dem Atlantik kündigen dunkle Wolken erneut Regen an. Trotzdem versammeln sich die Novaltia-Beschäftigten zur Mahnwache im Zentrum der baskischen Metropole. Die 20 Streikenden entrollen am Mittag auf dem zentralen «Biribila-Platz» ein Transparent: «Novaltia-Beschäftigte im Kampf für einen Firmenvertrag. Stop prekäre Arbeitsbedingungen», ist darauf zu lesen. Seit mehr als 1000 Tagen protestieren sie jeden Freitag auf dem «Runden Platz». Seit fast drei Jahren trotzen sie auch dem launischen baskischen Wetter, auch in täglichen Protesten vor Apotheken.

«Der Streik ist kein Zuckerschlecken.»

DOPPELTE LOHNSKALA

Im Juli 2019 traten drei Viertel der Beschäftigten in der Produktion in der Novaltia-Filiale in der baskischen Provinz Biskaya in den Streik. Darunter auch die 30jährige Helka Fernández. Sie sagt: «Ich dachte, das geht nur ein paar Tage.» Ihre Gewerkschaft, die «Baskische Arbeitersolidarität» (ELA), hatte aber ­gewarnt, sich besser «auf einen langen Kampf» einzustellen. Denn mehr als zwei Jahre mussten Mit­arbeitende des deutschen Schleifmittelherstellers Pferd-Rüggeberg hier streiken, um willkürliche Kündigungen rückgängig zu machen. Der Novaltia-Streik stellt aber diesen bisherigen Streikrekord in den Schatten.

Offiziell ist Novaltia eine Kooperative, ein ­Zusammenschluss von Apotheken, die sich von ­Novaltia ­beliefern lassen. In Biskaya sind es etwa 200 Apotheken. Aber Novaltia hat als Firma auch Mitarbeitende, die nicht der Kooperative angehören. Für sie hat Fernández im Lager bis zum Streikbeginn für 927 Euro im Monat Bestellungen zusammengestellt. «Dafür sollte ich sogar noch am Wochenende antreten, auch noch ohne Zuschläge», erklärt die junge Frau empört. Eigentlich gefällt ihr die Arbeit, aber von diesem Lohn kann sie im teuren Bilbao nicht leben, an Kinder sei nicht zu denken.

Auch Lagerchef Ibai Carranza streikt. Obwohl der 36jährige vergleichsweise gute Lohnbedingungen hat. Er erklärt, die Arbeitsverhältnisse seien mit der Finanzkrise ab 2008 immer prekärer geworden, Carranza, der für die ELA-Gewerkschaft im Betriebsrat sitzt, will einen würdigen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) erkämpfen. Das zentrale Streikziel sei aber, die doppelte Lohnskala abzuschaffen, erklärt Fernández.

Als in der Finanzkrise angeblich das Damoklesschwert einer Schliessung über Novaltia hing, stimmte eine Belegschaftsmehrheit Lohneinschnitten von bis zu 30 Prozent zu. Im Gegenzug musste ein guter Teil, der damals kurz vor der Pensionierung stand, keine Rentennachteile hinnehmen. Akzeptiert wurde damit auch ein «Zweiklassensystem», erklärt Carranza: «Neue Beschäftigte erhalten seither viel weniger Lohn für die gleiche Arbeit.» Statt einen Kompromiss zu suchen, zog Novaltia die Schrauben in GAV-Verhandlungen 2018 noch stärker an. Sie wechselte einseitig zu dem noch schlechteren spanischen GAV. Gewerkschafter Carranza ist überzeugt: «Das brachte das Fass zum Überlaufen.»

REINE SCHIKANE

Der Streik sei kein Zuckerschlecken, sagt Gewerkschafterin Fernández: «Von wegen nicht arbeiten, aber weiter Lohn aus der ELA-Streikkasse zu erhalten. Ich kann oft nicht schlafen, habe auch Depressionen.» Einige Kolleginnen und Kollegen hätten den Druck nicht ausgehalten und die Stelle gewechselt. An manchen Tagen könne sie aber «himmelhoch jauchzend und jubelnd in die Luft» springen. Zum Beispiel, als vergangene Woche der Oberste Gerichtshof die Verlegung von 14 Streikenden in eine stillgelegte Novaltia-Anlage annulliert hat. Für Gewerkschafter Carranza sind die Verlegungen reine «Schikane» und das «Vorspiel für Kündigungen».

Die Streikenden hoffen auf weitere positive Urteile in hängigen Klagen. Denn über Streikbrecher hebelt Novaltia das Streikrecht aus. «Wie sonst ist es möglich, die Lieferungen aufrechtzuerhalten?» fragt Carranza. Eine Stellungnahme war von Novaltia dazu nicht zu erhalten. Hoffnung machen den Streikenden auch andere erfolgreiche Streiks: Wie etwa die 13 Reinigerinnen, die im nahen Guggenheim-Museum an 285 Streiktagen gerade eine Lohnerhöhung um 20 Prozent und deutlich verbesserte Arbeitsbedingungen erkämpft haben.

Ohne solche Erfolge und die ELA-Unterstützung hätten sie niemals so lange durchgehalten, sind Carranza und Fernández überzeugt.

* Ralf Streck ist Journalist, lebt seit über 20 Jahren im Baskenland und berichtet über linke Unabhängigkeits­bewegungen. 

ELA: «Baskische Arbeitersolidarität»

Die ELA, 1911 von Christdemokraten gegründet, rückte mit der Franco-Diktatur, in der auch sie ­verboten war, immer weiter nach links. Sie ist eine starke Gewerkschaft im Baskenland und verdrängt immer mehr die spanischen Gewerkschaften und macht auch der linksradikalen LAB das Feld streitig. Sie stellt mehr als 40 Prozent aller Betriebsratsmitglieder. Die Langzeitstreiks finanziert die ELA mit höheren Mitgliederbeiträgen, als sie die grossen spanischen Gewerkschaften erheben.

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