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50 Jahre Münstergass-Buchhandlung in Bern: Vom Raubdruck zum E-Book

Marie-Josée Kuhn

Klein, aber fein versteckt sie sich in den unteren Berner Altstadtlauben: die Buchhandlung, die immer mehr war als alle anderen Buchhandlungen.

WO BÜCHER BLÜHN: Schaufensterauslage der Münstergass-Buchhandlung. (Foto: ZVG)

Es sind die nach-68er Jahre, Aufbruch und Revolte. Und es herrscht ein schier unstillbarer Lesehunger und - durst: Marx, Engels und das «Indische Tagebuch» von Allen Ginsberg. Die Schriften der RAF und Günter Amendts Buch über die «Profit- und Suchtökonomie des Drogenhandels» und nicht verpassen: das chinesische Comic «Mädchen aus der Volkskommune». All diese Neuerscheinungen preist die «Buchhandlung für Soziologie», die spätere Münstergass-Buchhandlung, im Januar 1972 an. Auf einem Flugblatt! Es ist mit Schreibmaschine engzeilig getippt und per Schnapsmatrize vervielfältigt. Und es soll auf die baldige Laden­eröffnung aufmerksam machen.

Am 16. März ist es dann so weit: der kleine Buchladen öffnet seine Türen. Und der gemeinsame Traum von Ueli Riklin und Irene Candinas geht in Erfüllung. Startkapital: 6000 Franken. Miete: 200 Franken im Monat.

HEHLEREI UND RAUBGUT

Riklin & Candinas haben beide das Buchhandel-Handwerk von der Pike auf gelernt. Beide sind sie langhaarig, links und sozial gestimmt. Auch Leute mit wenig Geld und kleinem Bildungsrucksack sollen Bücher kaufen und lesen können. Ihr Buchladen bietet deshalb auch Raub- und sozialisierte Drucke an. Das kommt nicht überall gut an in der bhäbigen Hauptstadt.

Entsetzt berichtet die «Neue Berner Zeitung» über dieses Angebot und fragt: «Was ist das, Raubdrucke?» Um dann wie folgt aufzuklären: «Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik werden von Gruppen der Ultra-Linken urhebergeschützte Werke entschädigungslos nachgedruckt und zu Spottpreisen verkauft!» Solche «Raubzüge» würden sich «kaum von der Hehlerei, d. h. von der Anpreisung gestohlener Ware», unterscheiden. Weshalb der Buchhändler- und Verlegerverein doch bitte einschreiten möge, um diese «skrupellosen» Leute, die «sowjetische Urheberrechtsbegriffe importierten», genauer unter die Lupe zu nehmen.

KULT UND FRAUENZEICHEN

Die Geschichten des Münstergass-Buchladens und seines Sortiments lesen sich wie die Weltgeschichte im Spiegel linker Wahrnehmung und Rezeption. Das zeigt die spannende und sehr schön gestaltete Festschrift, die der Historiker Tobias Kästli zum 50-Jahre-Jubiläum des Ladens verfasst hat. Mehr noch: Die bewegte Geschichte des Münstergass-Buchladens ist gleichzeitig auch die Geschichte des Buchhandels, linker Grafik und des technologischen Wandels.

Irland und Imperialismus, Chile und Allende, Revolution in China, die Tupamaros in Uruguay, der amerikanische Rüstungswahn, Nelkenrevolution in Portugal, Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung, Brecht, Bloch und Bührle. Linke Stationen zwischen zwei Buchdeckeln. Mani Matter und Sergius Golowin gehen im Laden ein und aus. Die «Buchhandlung für Soziologie» wird trotz ihres engen und sperrigen Namens zum hippen Treffpunkt von Intellektuellen, Künstlerinnen und aufrührerischen Uni-Professoren. Und ihr Logo, die vielen Plakate, Tragtaschen und Postkarten werden Kult. Doch eines Tages hat Irene Candinas definitiv genug.

Einfach alles zu «männerlastig!» findet sie: Das Sortiment des Ladens, aber auch die Arbeitsverteilung zwischen ihr und ihrem Ueli. Und als an der Münstergasse 41 im ersten Stock eine Wohnung frei wird, schlägt sie zu. Der Frauenbuchladen ist geboren. «Bücher von Frauen über Frauen, Zeitschriften, Posters und Schallplatten», schreit das erste Werbeplakat in lila Schrift mit zwei Frauenzeichen. Und plötzlich hat auch die neue Frauenbewegung ihren Ort.

EINHEITSLOHN UND MAUERFALL

Klar, dass auch die Selbstverwaltungs-Bewegung nicht vor den Türen der Münstergass-Buchhandlung Halt macht. Riklin versucht das Prinzip der Lohngleichheit für alle und der Abschaffung jeglicher Hierarchie zu realisieren. Und zwar innerhalb der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Solange die Zahl der Mitarbeitenden klein bleibt, funktioniert das einigermassen gut, «wobei immer alle wussten, wer der eigentliche Chef war». So beschreibt es Festschrift-Autor Kästli.

Doch bereits 1997 arbeiten neben Ulrich Rik­lin 10 weitere Personen im Laden. Es wird unübersichtlicher. Aber nicht nur das. Inzwischen hat sich auch die Welt völlig verändert.

Die Mauer ist weg, die Sowjetunion implodiert, der Kalte Krieg neigt sich seinem Ende zu. Entsprechend ändert sich auch das Sortiment. Im Brennpunkt stehen jetzt etwa die Diamant-Feier und die Nazigold-Debatten in der Schweiz. Der Golfkrieg und der Krieg auf dem Balkan. Max Frisch und Freddie Mercury sind tot: Es leben die Bücher und kulturpolitischen Essays über sie.

ROTE ZAHLEN UND CORONA

Alles dreht sich jetzt immer schneller. Die grosse Umstrukturierung des Berner Buchhandels erfolgt 1995, als Jäggi seine Grossbuchhandlung im Warenhaus Loeb eröffnet. Konzentration und Kannibalismus. Riklin notiert: «Es zählt nur noch die Gewinnspanne.» Dann fällt auch noch die Buchpreisbindung.

Zum ökonomischen Druck hinzu kommt jener des technologischen Wandels: 1992 bestellt der Laden das erste Faxgerät. 1994 die Bestellsoftware ULUR. Es folgen Internet und E-Book. Der linke Buchladen erfindet sich neu. Wieder und wieder, passt sich an, rudert, rennt und rechnet. Belletristik ist nun mehr und mehr im Kurs bei der Kundschaft: Beat Sterchi, Katharina Zimmermann, Jürg Halter oder Christoph Simon. Und Poesie, Krimis und Bücher zur Kochkultur.

Dennoch: 2006 rutscht die Münstergass-Buchhandlung in die roten Zahlen. Und noch im gleichen Jahr verkaufen Riklin und Candinas beide Läden. Auch weil Ueli Riklin die schwere Diagnose «Parkinson» erhält.

Der Frauenbuchladen geht an die Buchhandlung Weyermann. Die Münstergass-Buchhandlung an drei erfahrene und begeisterte Buchhändlerinnen. Sie bauen das Onlineangebot aus und behaupten sich trotz Amazon & Co.

Zwischen 2015 und 2019 erfährt der bewegte Laden erneut einen Handwechsel. Susanne Bühler und Monika Steiner übernehmen – und dann kommt Corona. Schon wieder Existenzangst! Doch wie ein Wunder: die beiden neuen Besitzerinnen schaffen es! Alle im zehnköpfigen Team sind noch da. Auch die Reinigungsperson und der Velokurier.

Tobias Kästli: Jedes Buch ist ein Versprechen. 50 Jahre Münstergass-Buchhandlung. Sinwel, 120 Seiten, CHF 20.–.

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