Russische Friedensbewegung beweist grossen Mut, doch:

Wo bleiben Russlands Gewerkschaften?

Jonas Komposch

Der postsowjetische ­Gewerkschaftsbund FNPR ist dem Kreml­herrscher treu ­ergeben. Kleinere ­Verbände ­kritisieren Putin dagegen erstmals öffentlich. Und riskieren damit sehr viel.

FRIEDENSTAUBE: Eine Demonstrantin in St. Petersburg wird von der Polizei abgeführt. (Foto: Keystone)

Moskau am 13. März 2022: Es ist der achtzehnte Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Eine Frau steht allein auf dem Roten Platz und unterhält sich mit einem Fernsehjournalisten. Sie fragt ihn: «Bist du für uns Aktivistinnen?» Er: «Natürlich!» Dann zieht sie ein kleines Papier aus ihrer Jacke. «Zwei Worte» steht darauf, sonst nichts. Noch vor zwei Wochen wäre die Frau wohl expliziter gewesen, hätte «нет войне» (sprich: «Njet vojne») auf ihr Plakat geschrieben, also «Nein zum Krieg!». Heute ist das hochriskant. Am 4. März beschloss das russische Parlament ein Gesetz, das die Weitergabe von «Falschinformationen» über die Aktivitäten der Streitkräfte unter Strafe stellt. Ebenso die «Diskreditierung» der Truppen. Auch die Begriffe «Krieg», «Invasion» und «Angriff» dürfen zur korrekten Beschreibung der sogenannten Spezialoperation in der Ukraine nicht mehr verwendet werden. Bei Widerhandlung drohen hohe Geldbussen oder bis zu 15 Jahre Lagerhaft.

Daher fragt die Frau auf dem Roten Platz: «Was denkst du, werden sie mich mit diesem Plakat verhaften?» Just in diesem Moment stürmen vermummte Polizisten heran und führen die Kriegsgegnerin ab. Noch verrückter wird es Sekunden später: Eine zweite Frau spricht den Journalisten an. Ob er eigentlich nur Systemkritiker filme, sie als zufriedene Bürgerin und Befürworterin der «Spezialoperation» wolle nämlich auch etwas sagen. Doch zu mehr reicht es nicht. Wieder stürmen Putins Schergen heran und verhaften auch diese Frau – erneut vor laufender Kamera.

«Der Krieg spaltet die russische
Gesellschaft.»

TÄGLICHE PROTESTE

14’971 inhaftierte Demonstrantinnen und Demonstranten in über 150 Ortschaften hat die russische Nichtregierungsorganisation OVD-Info seit Kriegsbeginn am 24. Februar schon gezählt (Stand Redak-­tionsschluss am 16. März). Trotzdem komme es immer noch täglich zu Protesten. Auf die Strasse gingen allerdings vorwiegend junge Leute in grossen Städten. Das bestätigt auch Dimitri Petrow* von der unabhängigen Lehrergewerkschaft. Er ist der einzige russische Gewerkschaftsvertreter, der auf eine breit angelegte work-Umfrage reagiert hat. Pe­trow schreibt, es sei schwer zu sagen, wie verbreitet die Ablehnung des Krieges unter seinen Landsleuten sei: «Während staatliche Meinungsumfragen eine Kriegs-Zustimmung von über 70 Prozent ergeben, kommt eine Analyse der unabhängigen Zeitung ­‹Nowaja Gazeta› auf das genaue Gegenteil. Wie auch immer: Der Krieg spaltet die russische Gesellschaft zweifellos.» Auch seine Lehrergewerkschaft habe sich an der Frage entzweit, ob sie den Krieg öffentlich verurteilen solle.

Genau das getan haben allerdings die Gewerkschaft des Luftfahrtpersonals des Moskauer Flughafens Scheremetjewo, die russische Seeleutegewerkschaft (die über die Internationale Transportarbeiterföderation mit der Unia verbunden ist) sowie KTR, der 2,5 Millionen Mitglieder starke Dachverband der Alternativgewerkschaften.

GEWERKSCHAFTSBUND FASST MUT

Der KTR verkündete bereits am zweiten Tag der Invasion: «Mit grosser Bitterkeit halten wir fest, dass es die arbeitende Bevölkerung beider Länder ist, die unter dem Konflikt leidet.» Die «militärischen Aktionen» müssten «sofort» aufhören. Ein vorsichtiges, aber mutiges Statement! Und eines, das völlig neue Dynamiken offenbart. Denn bis anhin hatte sich der KTR kaum je getraut, Putins Politik öffentlich zu kritisieren. Erst recht nicht, seitdem ihr Mitglied, die kämpferische Automobilarbeitergewerkschaft MPRA, 2018 als «ausländische Agentin» angeklagt und faktisch zerschlagen worden war. Keine Probleme mit dem Kremlherrscher hat dagegen der Gewerkschaftsdachverband FNPR – der grosse Konkurrent der KTR.

PUTINTREUE «GEGEN NAZIS»

Der FNPR ist der direkte Rechtsnachfolger der sowjetischen Betriebsorganisationen und mit seinen rund 28 Millionen Mitgliedern die grösste zivile Organisation in Russland nach der orthodoxen Kirche. Seit 20 Jahren entwickelt sich der Riesenverband zunehmend zur tragenden Stütze des Regimes. So verurteilten die FNPR-Spitzen sämtliche Oppositionsproteste der letzten Jahre scharf. Und auch jetzt stellen sie sich voll hinter den Kreml: Man unterstütze den Herrn Präsidenten bei seiner «Operation zur Entnazifizierung der Ukraine», schreibt der FNPR in einem Communiqué. Es endet mit dem Schlachtruf «Friede den Nationen! Krieg den Nazis!»

Trotz solchem Kriegsgeheul hat Lehrer Petrow die Hoffnung nicht aufgegeben. Die weitere Entwicklung sei zwar schwer vorauszusagen. Eines jedoch sei sicher: «Die Friedensbewegung ist jetzt besser organisiert und viel aktiver als die Kriegsunterstützer, obwohl letztere vom Staat unterstützt werden.»

* Name geändert

Gewerkschaften in der Ukraine: Im Kriegs­modus

Bis vor kurzem waren die ukrainischen ­Gewerkschaften – analog den russischen – zweigeteilt und verfeindet: Einerseits ist da der grosse, aber äusserst handzahme Gewerkschaftsbund FPU. Er hat ­sowjetische Wurzeln. Andererseits der kleinere, dafür konfliktfreudigere Dachverband KVPU. Er ist ein Kind der national-patriotischen Be­wegung und der Bergarbeiterstreiks der 1990er Jahre. Während der KVPU den ­Maidan-Aufstand in Kiew von 2014 unterstützte, hielt der FPU zur damals noch russlandfreundlichen ukrainischen ­Regierung. Ganz anders heute: Beide ­Verbände unterstützen die ukrainischen Truppen mit Geld und ­Logistik. Der FPU fordert sogar eine Nato-Intervention, wohlwissend, dass dies den dritten Weltkrieg auslösen würde.

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