Europa rüstet auf, obschon es schon hochgerüstet ist

Plötzlich ist der Klimawandel überhaupt kein Thema mehr

Oliver Fahrni

Auf Putins Angriffs­­krieg gegen die Ukraine ­reagieren mehr und mehr Staaten mit militärischer Aufrüstung. Allen voran Deutschland.

AUFRÜSTUNG BOOMT: Die Regierungen Deutschlands, Dänemarks, Schwedens und Grossbritanniens kündigten (noch) höhere Militärbudgets an. (Grafik: work)

Wieder einmal gab ein deutscher Finanzminister Europa den Tarif durch: Am 14. Februar sagte Christian Lindner, die Regierungen der EU müssten sofort auf die Sparbremse treten. Schon nächstes Jahr sollten wieder die alten Budgetregeln gelten: maximal 3 Prozent Neuverschuldung pro Jahr und eine Schuldenobergrenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Kurz nach Lindners Interview im deutschen «Handelsblatt» verkündete die Europäische Zentralbank, sie werde den Staaten keine frischen Mittel mehr zuführen. Panik in Paris, Rom, Brüssel: Denn das bedeutet massive Abstriche bei den Ausgaben, vor allem bei den Sozialausgaben. Lindners Chefökonom, Lars Feld, brachte bereits ein Rentenalter 70 ins Spiel.

Der Tagesbefehl aus Berlin war eine Kampfansage an die EU-«Partner». Seit Covid wütet, hielt sich nämlich niemand mehr an diese 3/60-Regel, auch nicht Deutschland. Eigentlich hatte die EU die Norm schon lange gekippt. Um mit zusätzlichen Geldern gegen die Corona-­Seuche – «koste es, was es wolle» (Frankreichs Präsident Macron) – die ökonomische Solidarität in der EU zu stärken, den ökologischen Umbau voranzutreiben und die Infrastrukturen des Kontinents zu sanieren. Alles vorbei – jetzt sollte wieder der Sparbefehl gelten.

Ex-Verdi-Chef Bsirske konstatiert ein «krasses Miss­verhältnis» …

SCHOLZ MACHT MOBIL

Es kam noch schlimmer. Zehn Tage später trat der russische Herrscher Wladimir Putin seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine los. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte sofort mit Aufrüstung: 100 Milliarden Euro – und künftig 2 Prozent des BIP – sollen Deutschlands Streitkräfte schlagkräftiger machen. Diese 2 Prozent sind eine alte Forderung der Nato. Wie Insider berichten, hatte Scholz diesen Beschluss nicht mit seiner parlamentarischen Mehrheit abgesprochen.

Egal, für die Aufrüstung gibt es gerade einen europaweiten Konsens. Die Regierungen Dänemarks, Schwedens und Grossbritanniens kündigten höhere Militärbudgets an. Diverse andere Länder folgen seither in raschem Takt.

… zwischen den Militärausgaben Russlands und des Westens.

«NACKTE PROPAGANDA»

Aufrüstung, aber zugleich Sparprogramm und Schuldenbremse, da stellen sich heikle Fragen: Was bleibt da für den dringenden Kampf gegen den Klimawandel? Und wie geht das mit der Rettung der maroden deutschen Infrastrukturen zusammen? Allein die Schulen und das Ausbildungs­system bräuchten dringend 50 Mil­liarden Euro. Und was ist mit der Armutsbekämpfung?

Alles eine Frage der Prioritäten, findet Bundeskanzler Scholz. Die Generäle haben ihm eingeflüstert, Deutschlands Militär stehe «blank» da, hätte im Notfall der russischen Armada also wenig entgegenzusetzen. «Nackte Propaganda», ruft da Frank Bsirske zurück. Der langjährige Ex-Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi nennt Putins Krieg «ein Verbrechen», fragt aber, wo denn die vielen Milliarden für die deutsche Rüstung geblieben seien. Denn Deutschland rüstet schon seit Jahren auf. Und die Schweiz ebenfalls (siehe Seite 6). Seit 2015 ist der deutsche Rüstungshaushalt um mehr als ein Drittel gestiegen, von 32 Milliarden auf rund 50 Milliarden Euro pro Jahr.

Bsirske konstatiert ein «krasses Missverhältnis» zwischen den Militärausgaben Russlands und des Westens. Russland: 61,7 Milliarden Dollar. USA: 13-mal mehr. Nato insgesamt: über 1000 Milliarden Dollar. Bereits heute übertreffen die kombinierten Verteidigungshaushalte Frankreichs und Grossbritanniens den russischen deutlich. Und mit 2 Prozent vom BIP würde allein Deutschland mehr ins Militär stecken als Russland. Gewerkschafter Bsirske: «Und jetzt sagt man uns, das reicht alles nicht. Ich finde das nicht einleuchtend.»

Darum sieht Bsirske «Diskus­sionsbedarf». Wenn sich heute die extreme Abhängigkeit Europas von russischem Gas und Öl zeigt, müsste da nicht gerade die intensive Förderung alternativer Energien betrieben werden? Für die Unabhängigkeit und gegen den Klimawandel. Solche Fragen über die Verwendung öffentlicher Mittel stellen sich gerade einige.


Europa-Gipfel:  Alle wieder für sich allein

SONDERGIPFEL: Die Staatschefinnen und Regierungschefs der EU besiegeln in Versailles das Ende der solidarisch getragenen Corona-Schulden. (Foto: Getty)

Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte mal wieder unter den goldenen Stuck von Versailles geladen. Der Gipfel aller Europa-Gipfel sollte es werden am 10. und 11. März, die ultimative Antwort Europas auf Putins Aggression. Und nebenbei dem französischen Präsidenten die Wiederwahl im April sichern.

Für die Galerie zele­brier­te man Einheit. Ma­cron umriss die Ambition: «Europa muss sich verändern. In Sachen Verteidigung, Energie, Landwirtschaft, Gesundheit und Technologie. Wir Europäer müssen historische Entscheidungen treffen, für unsere Souveränität, für unsere Zukunft.»

Wirtschaftlich ist Europa gross, strategisch aber klein.

KEIN ÖL-VERZICHT. Doch ­daraus wurde wenig. Zwar beschloss man, ein paar weitere russische Oligarchen auf die Boykott-Liste zu setzen. Rabiat verschärf­­te Sanktionen, etwa den Verzicht auf Gas, Öl und Kohle aus Russland, hatte Berlin schon im Vorfeld ausgeschlossen (Deutschland kann nicht ohne leben). Zu gegenwärtigen Preisen spült das Putins Konzernchefs etwa 400 Milliarden Dollar jährlich in die Kassen. Enthusiastisch verschoben die Staatschefs auch die Aufnahme der ­Ukraine in die EU auf ­irgendwann. Und Deutschland, Dänemark und Finnland schickten den niederländischen Regierungschef vor, um der Versammlung der 27 zu bedeuten, die Covid-Zeit solidarisch ge­tragener Schulden und lockeren EZB-Gelds sei nun passé. Künftig gelte wieder: Jeder für sich allein.

KEINE EU-ARMEE. Nicht einmal das Lieblingsprojekt aller französischen Präsidenten seit Charles de Gaulle, die europäische Streitmacht, kam voran. Europa ist wirtschaftlich eine Grossmacht, strategisch aber klein, trotz ­hohen Militärbudgets (sie­­he Grafik oben) und Atomwaffen (F und GB). Jetzt schien der Zeitpunkt günstig. Immerhin beteiligen sich zum Beispiel die Letten an französischen Mili­tär­operationen im Sahel. Doch nicht einmal die IEI, eine Art Interventionskommando von 13 europäischen Staaten, kam bisher zum Fliegen. Zu gegensätzlich die Interessen der nationalen Rüstungsindustrien, zu effizient die Lobbyarbeit der USA, die viel daransetzen, eine von der Nato autonome europäische Streitmacht zu verhindern. Selbst Deutschland, das mit Frankreich gemeinsam für 8,6 Milliarden Euro einen «Kampfflieger der 6. Generation» («Scarf») entwickelt, kaufte sich jetzt erst einmal US-Tarnkappenbomben.

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