Das sagen ukrainische und russische Mitglieder der Unia zum Krieg:

«Jeder und jede leidet, jeden Tag!»

Christian Egg und Patricia D'Incau

Sie arbeiten in der Pharma, im Gastgewerbe, auf dem Bau oder im Detailhandel. Und sie blicken fassungslos in Richtung Heimat: Denn Putins Angriffskrieg trifft sie alle mitten ins Herz.

VOLLES HAUS: Tetyana Huber (3. v. l.) neben ihrem Sohn und ihrem Partner Servet Yilmaz (1. v. l.). Seit kurzem finden auch ihre Schwägerin, deren Sohn und zuhinterst ihre Mutter auf dem Sofa Platz. (Foto: ZVG)

Der Kriegsausbruch war ein totaler Schock. Bei Coop-Verkäuferin Iryna Zicaro (48) aus dem Kanton Baselland klingelte am 24. Februar um halb sechs Uhr morgens das Handy. Es ist ihre Mutter aus Sumy, im Nordosten der Ukraine. «Sie sagte mir, Charkiw wird bombardiert. Der Krieg hat angefangen», erzählt Zicaro. Seither sei nichts mehr wie früher: «Ich gehe schlafen mit dem Krieg, ich stehe am Morgen auf mit dem Krieg.» Es gebe nur noch eines: «Hoffen und beten, dass der Krieg bald zu Ende geht.» Zwar ist Zicaro unendlich froh, dass sie ihre Nichte mit einer fünfjährigen Tochter und einem fünf Monate alten Sohn bei sich einquartieren konnte. Schon am ersten Kriegstag flüchtete die junge Mutter und schaffte es bis nach Polen. Zicaro: «Dann ist meine älteste Tochter von hier aus losgefahren und hat sie abgeholt. Als sie angekommen ist, haben wir alle geweint. Zum Glück sind sie hier!»

Iryna Zicaro. (Foto: ZVG)

Doch ihre Erleichterung ist gemischt mit Trauer und Angst. Die geflüchtete Nichte musste ihren Mann im Land zurücklassen. Jetzt können die beiden nur noch telefonieren. Am härtesten sei es aber zu sehen, wie der Krieg die Welt des fünfjährigen Mädchens verändert habe, sagt Zicaro: «Wenn sie von zu Hause erzählt, dann sagt sie immer: ‹Vor dem Krieg war das so.› Das tut unglaublich weh.»

Tanja Chynko. (Foto: ZVG)

Entsetzt ist auch Tanja Chynko (43). Sie ist Musiklehrerin aus der ­Bodenseeregion und auf Stellensuche: «Es werden Tausende ­getötet in meinem Land!» sagt sie. Chynko floh 2014 selber aus der Ukraine, als Russland die Krim besetzte und der Krieg in der Region Donbass losging. Jetzt hat Chynko ihre Schwägerin, ihre 14jährige Nichte und ihren 8jährigen Neffen bei sich aufgenommen. Sie erzählt: «Sie sind mit zwei Taschen angekommen, sonst nichts.» Chynko sammelt jetzt Kleider und Lebensmittel und ruft online zu Spenden auf. Zusammen mit Freundinnen und Freunden will sie die Hilfsgüter an die ukrainische Grenze fahren, in wenigen Tagen soll es losgehen.

VERWANDTE AUF BEIDEN SEITEN

Bogdan Khorkunov. (Foto: ZVG)

Fassungslos macht dieser Krieg aber auch die russischen Unia-Mitglieder, mit denen work gesprochen hat. Zum Beispiel Bogdan Khorkunov (46) aus Wettingen AG. Der gelernte Chemie- und Pharmatechnologe ist inzwischen Schweizer, hat aber auch noch den russischen Pass. Und «Verwandte auf beiden Seiten», sagt er. Sowohl in Russland als auch in der Ukraine. Da seien etwa seine Tante und ihr Mann, die in der Nähe von Kiew wohnen. Khorkunov erklärt: «Sie versuchen zu bleiben. Es ist ja auch nicht einfach, wegzukommen.»

Aber auch um seine Angehörigen in Russland macht er sich Gedanken, denn: «Ich kann sie nicht mehr finanziell unterstützen. Die russischen Banken sind vom Zahlungssystem abgeschnitten.» Im Moment hätten sie noch Arbeit. Doch: «Wir wissen nicht genau, wie sich die wirtschaftliche Lage entwickelt. Auch hier in der Schweiz. Die Energie- und Rohstoffpreise steigen überall! Es macht mir Sorgen, was da auf uns zukommt.»

Konstantin Aborin. (Foto: ZVG)

Auch Konstantin Aborin (27) werden jetzt öfter Fragen gestellt, weil er Russe ist, erzählt der Industriekeramiker aus Embrach ZH: «Ich kann zu diesem Krieg aber keine Antworten oder Erklärungen liefern. Ich kann nur sagen, dass das keine gute Situation ist. Und leider kann ich nichts daran ändern.»

KEINE NACHRICHTEN MEHR

Am Anfang war es wie ein schlechter Traum. Krieg in der Heimat? Bomben. Panik. Die Ukrainerin Kristina Bayeva (25) sagt: «In den ersten Tagen fühlte ich mich total verloren und hilflos. Ich wusste nicht, was machen. Meine ganze Familie ist noch dort!» Die Mutter, die Grossmutter, der Bruder mit Frau und zwei Kindern, Cousins und Cousinen.

Kristina Bayeva. (Foto: ZVG)

Nur sie ist hier, in einem Vorort von Bern. Seit zwölf Jahren. Bayeva arbeitet als Sachbearbeiterin bei der Unia-Arbeitslosenkasse. Ständig habe sie aufs Handy geschaut: Passiert etwas? Breitet sich der Krieg weiter aus? Ihre Familie wohnt im Westen des Landes, nahe der Grenze zur Slowakei. Bayeva erzählt: «Es gibt immer wieder Sirenenalarm, und viele Menschen sind aus dem Osten in die Region geflüchtet und hausen jetzt in Turnhallen und Notunterkünften.» Immerhin: Ihren Verwandten ginge es so weit gut.

Das kann Bauarbeiter Mykhailo Y. nicht sagen. Der 37jährige aus dem Kanton Zürich hat von seinem Schwager in Mariupol seit Kriegsbeginn keine Nachricht. «Ich weiss nur, dass seine Fabrik von Artillerie beschossen wurde.» Auch seine Ex-Frau und die beiden gemeinsamen Kinder kann er lange nicht kontaktieren. Nach fünf bangen Tagen melden sie sich: Sie konnten über die Grenze nach Polen flüchten. Wie es weitergeht, ist unklar. Mykhailo Y. sagt: «Ich habe kein Geld, um zu ihnen zu fahren.»

Tetyana Huber. (Foto: ZVG)

Gott sei Dank schon in Sicherheit sind die Angehörigen von McDonald’s-­Schichtleiterin Tetyana Huber (44). Seit ein paar Tagen leben die Mutter, die Schwägerin und deren 12jäh­riger Sohn nämlich ebenfalls in der 4-Zimmer-Wohnung im Kanton Bern. Auf dem Sofa hat es gerade genügend Platz für alle sechs (siehe Bild oben). Nur Hubers Bruder fehlt, er hat in der ­Ukraine bleiben müssen: «Er ist Arzt und wird jetzt dringend gebraucht», erklärt Huber. Ihre Familie war etwa hundert Kilometer von Kiew entfernt zu Hause. Ständig sei die Stadt von Raketen angegriffen worden. Es blieb nur noch die Flucht.

Nach zwei Tagen schafften es die zwei Frauen und der Junge nach Warschau. Sie wollten per Flugzeug in die Schweiz. Aber, sagt Huber: «Die Ticketpreise sind dermassen in die Höhe geschnellt, das konnten sie nicht bezahlen. Schliesslich habe ich von hier aus die Tickets gekauft.»

Vor ein paar Tagen ging Huber mit den drei zum Asylzentrum, um sie zu registrieren. Vor allem, damit sie eine Krankenkasse haben. Einfach sei das Ganze nicht: Weil sie kein Deutsch könnten, seien Mutter und Schwägerin ständig auf sie angewiesen. Huber: «Ich muss so viel machen und muss auch noch zur Arbeit. Ich bin ziemlich geschafft.» Etwas eng sei es jetzt halt auch, aber: «Für ein, zwei Monate kommen wir klar.»

Elisaveta Petrova. (Foto: ZVG)

Für Elisaveta Petrova (24), die gerade eine neue Stelle in der Pflege angetreten hat, ist die Welt definitiv aus den Fugen. Sie sagt: «Dieser Krieg bringt nichts ausser Leiden. Das macht mich traurig.» Als hätten die Menschen nichts gelernt aus den beiden Weltkriegen, das sei ja noch gar nicht so lange her. «Das verstehe ich einfach nicht!» Schwierig sei für sie gerade auch, dass sie ihren Vater nicht sehen könne. Er lebt in Russland. «Ich kann nicht zu ihm fliegen und er nicht zu mir», erzählt Petrova. Zuletzt sei sie vor zweieinhalb Jahren bei ihm zu Besuch gewesen. Dann kam Corona. Und jetzt eben der Krieg. «Das ist schwer», sagt Petrova. «Und ich hoffe für alle Menschen, dass das alles bald vorbei ist!»

Ajndi Dachtaev. (Foto: ZVG)

Dass alles getan werden muss, damit der Krieg zu Ende ist: Das findet auch Ajndi Dachtaev (33). Er lebt im sanktgallischen Trübbach, doch die Kriegsbilder von Zerstörung und Leid sind dem Russen nur allzu bekannt. Denn: «Ich bin ursprünglich aus Tschetschenien. Ich habe schon als Kind Krieg erlebt.» Für den gelernten Maurer liegt deshalb auf der Hand: «Die Politiker sollten alles tun, damit es keinen Krieg mehr gibt. So schnell wie möglich! Denn: Jeder und jede leidet, jeden Tag!»

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