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Juristin Helin Genis (27): «Ich kann Ungerechtigkeit minimieren»

Anne-Sophie Zbinden

Für Helin Genis ist klar: «Recht ist nicht Gerechtigkeit.» Trotzdem will sie Anwältin werden. Und macht jetzt ein Praktikum bei der Kesb.

MENSCH IM FOKUS: Helin Genis (27) kämpft für jene, die ihre Stimme nicht selbst erheben können. (Fotos: Matthias Luggen)

Wir schreiben das Jahr 2030: Helin Genis steht vor Gericht. Nicht als Angeklagte, sondern als Strafverteidigerin. Mit Herzblut setzt sie sich für ihren Mandanten ein.

Rückblende, 25 Jahre früher: Kinder streiten auf dem Pausenplatz, Helin geht dazwischen, vermittelt und verteidigt.

Im Hier und Jetzt: Helin Genis ist 27 Jahre alt, hat eben ihr Jurastudium beendet und bildet sich zur Anwältin weiter. Lachend sagt sie: «Die Lehrerinnen mochten das nicht, dass ich für die anderen Kinder sprach. Sie sagten immer, sie müssten das selbst tun.» Aber Helin tat es trotzdem und will es auch weiterhin tun. Für all jene, die ihre Stimme nicht selbst erheben können. Zum Beispiel Sans-papiers: Seit bald 6 Jahren macht sie bei der Berner Beratungsstelle für Sans-papiers Rechtsberatungen. «Diese Menschen treten erst dann aus dem Schatten, wenn es um wirklich elementare Dinge geht: Geburten, Todesfälle oder schwere Krankheiten.»

Ausschlaggebend für ihr ehrenamtliches Engagement war der Dok-Film «Vol spécial» von Fernand Melgar, in dem es um die Zwangsausschaffung von Migrantinnen und Migranten geht. Genis sagt: «Dieser Film hat mich sehr berührt. Noch am gleichen Abend ging ich auf den Verein zu und bot meine Unterstützung an.» Für die Juristin sind diese Beratungen richtig und wichtig. Oft aber auch frustrierend, weil sie in so vielen Fällen nicht helfen kann. «Denn Recht ist eben nicht Gerechtigkeit!» Und trotzdem hat sie Jura ­studiert? «Ja, das fragen mich meine Freunde auch immer …» Aber genau deshalb sei sie Juristin geworden «Denn Gerechtigkeit kann ich nicht schaffen, aber ich kann Ungerechtigkeit minimieren.»

PARAGRAPHEN: Die Werkzeuge der JurIstin Helin Genis.

MENSCH IM ZENTRUM. Ob sie wirklich Strafverteidigerin wird, ist für Genis noch offen. «Auch Arbeitsrecht würde mich interessieren.» Hauptsache, der Mensch steht im Zentrum. «Beim Strafrecht interessiert mich vor allem der Hintergrund der Tat. Viel zu oft wird das soziale Umfeld zu wenig einbezogen.» Wichtig ist der Anwältin in spe auch der «Dreiklang» Opfer – Täter – Gesellschaft: «In der Rechtsprechung spielt die Erwartung der Gesellschaft häufig eine sehr grosse Rolle, die Opfer hingegen werden vergessen.» Oft wollen Opfer angehört und ernst genommen werden. Das stehe jedoch im jetzigen Strafsystem nicht im Vordergrund.

Der Grundgedanke unseres Strafrechts sei die Wiedereingliederung von Straftätern und -täterinnen in ein «normales» Leben. Eine schwere Haftstrafe sei deshalb häufig nicht sinnvoll, werde aber von der ­Gesellschaft erwartet. Deshalb seien Strafprozesse immer auch ein Austarieren: Wie hart muss eine Strafe sein, damit sie von der Gesellschaft akzeptiert wird, der Tat entspricht und auch gerecht für das Opfer ist?

KIND IM ZENTRUM. Lange kam Genis gar nicht auf die Idee, ­Anwältin zu werden. «Ich sah mich eigentlich immer als Lehrerin!» Aber dann sass sie in einer Jura-Vorlesung und wusste: «Ich bin am richtigen Ort.»

Bevor sie zur Anwaltsprüfung zugelassen wird, muss sie noch zwei «Lehrjahre» absolvieren. Zurzeit macht sie ein sechsmonatiges Praktikum bei einer Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) im Kanton Bern. Für die Kesb schreibt Genis Entscheide, erfasst, wenn Beiständinnen oder Beistände wechseln, protokolliert Anhörungen, macht Rechtsabklärungen. Sie sagt: «Die Arbeit ist sehr spannend, weil jeder Fall komplett anders ist.» Manchmal auch sehr belastend. Auch hier musste sie lernen, sich abzugrenzen. Was Genis besonders an die Nieren geht: Wenn Kinder fremdplaziert werden müssen. «Das ist aus der Sicht der Eltern nicht immer gerecht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schlimm das sein muss.» Aber die Fremdplazierung sei eine der letzten Möglich­keiten. Es gehe immer um das Wohl des Kindes. Und bei ihrer Kesb werde das Menschenmögliche rausgeholt, um eine gute Lösung für alle Beteiligten zu finden: «Wir handeln so schnell wie möglich, aber halten auch keine Massnahmen länger als nötig aufrecht.»

Ab Januar wird Helin Genis bei der Staatsanwaltschaft arbeiten und danach in einer Kanzlei. Und wer weiss, vielleicht eines Tages als Anwältin für die Unia? «Ja, das könnte schon sein!», sagt sie. «Denn schliesslich bin ich ein Unia-Kind!» Sie selbst ist zwar erst seit drei Jahren Mitglied, doch eigentlich schon ein Leben lang dabei. Schon als Baby ging sie mit ihrer ­Mutter, einer Spielgruppenleiterin, an die Demos. Diese ist seit 22 Jahren aktive Gewerkschafterin. Tochter Helin sagt: «Ich bin mega stolz auf sie, auf ihr Engagement bei der Unia!» Mama Genis war am ersten Frauenstreik 1991 dabei, beide gingen sie 2019 auf die Strasse – und hoffentlich dann auch 2023!


Helin GenisSängerin auf Reisen

Helin Genis bezeichnet sich selbst als richtige Städterin. «Ich bin in Bern geboren und aufgewachsen und wohne noch immer und gerne hier.» Ebenfalls sehr gerne reist Genis. «Doch Reisen war ja jetzt mit Corona ziemlich schwierig!» Nicht viel besser erging es ihrem anderen Hobby, dem Chorsingen. Genis erzählt: «Ich sang in einem Pop-Chor, den es aber mittlerweile leider nicht mehr gibt.» Doch Musik ist und bleibt wichtig in ihrem Leben. Sie hat während zehn Jahren Klavierunterricht genommen und Gesangsstunden. Helin Genis hat schon während ihrer Schulzeit in Chören gesungen, auch Solos.

BOXEN. Auch Bewegung ist ihr sehr wichtig. «Ich habe schon alles ausprobiert, von Zumba über Yoga bis zum Boxen!» Vor Corona ging sie ins Fitnesscenter, war aber schon immer auch gerne draussen in der Natur unterwegs.

Helin Genis liest sehr gerne und verbringt Zeit mit ihren Liebsten: «Kochen, Wein trinken, sein.» Sie ist Unia-Mitglied und verdient im Praktikum 3200 Franken brutto.

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