Monatelang war Brasilien eine Covid-Hölle – jetzt gelang die Wende

Brasilien zeigt Präsident ­Bolsonaro den Impffinger

Niklas Franzen, Rio de Janeiro

Staatspräsident Jair Bolsonaro ist ein ­Covid-Leugner und sabotierte die Impfstoff-Beschaffung. Doch die Brasilianer und Brasilianerinnen sind schlauer als ihr Präsident.

PARTYSTIMMUNG: Erstmals seit Covid fährt der Samba-Zug wieder. Der legendäre Zug fährt einmal pro Jahr vom Zentrum Rio de Janeiros in den Norden der Stadt. (Foto: Niklas Franzen)

Als der Samba-Zug den altehrwürdigen Zentralbahnhof verlässt, ist die Stimmung ausgelassen. Es wird gesungen, getanzt und gelacht. Mehrere Bands spielen, Smartphones und Fernsehkameras filmen alles. Der legendäre Zug fährt einmal im Jahr vom Zentrum Rio de Janeiros in den Norden der Stadt. Eine Tradition. Doch im letzten Jahr musste der Event wegen Corona ausfallen. So wie fast alle Konzerte und Parties in der feierverrückten Küstenmetropole.

«Wir glauben an die Wissenschaft und an das Impfen.»

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Dass der Samba-Zug in diesem Jahr wieder fährt, ist für viele ein Symbol: Die Pandemie ist unter Kontrolle. Enildo Viola, 53, ist jedes Jahr dabei. Er sagt: «Es fühlt sich unglaublich an, wieder zusammenzukommen.» Doch genauso wie früher ist es nicht. Der Zug ist nur halb gefüllt, alle müssen einen Impfnachweis vorzeigen. «Wir glauben an die Wissenschaft und an das Impfen», sagt Samba-Fan Viola. So denken die meisten Menschen in Brasilien. Rio de Janeiro hat wie alle Städte Brasiliens eine spektakulär hohe Impfquote. Die Nachrichten über das europäische Corona-Chaos und die Proteste von Impf­kriti­kerinnen und -kritikern werden kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Im Juli erklärten in einer Umfrage nur fünf Prozent der Bevölkerung, sich nicht impfen zu lassen. Die Zahl dürfte jetzt noch niedriger liegen. In den grossen Städten sind mehr als 90 Prozent der Erwachsenen zweifach geimpft, und es wird bereits fleissig geboostert. Selbst Kinder ab 12 Jahren werden längst geimpft. Das einstige Corona-Sorgenkind Brasilien spritzt sich aus der Krise.

Infektiologe Esper Kallás sagt: «Brasilien hat eine sehr lange Impftradition.» Bereits in den 1920er Jahren impfte Brasilien gegen die Pocken. In den 1970er Jahren startete das Land Massenimpfungen gegen Krankheiten wie Tuberkulose und Masern. Die Folge: Die Kindersterblichkeit konnte um die Hälfte reduziert werden. Und in der Bevölkerung schaffte man Vertrauen, dass Impfungen sicher sind und schützen. Mit «Zé Gotinha» (zu deutsch etwa: Sepp Tröpfchen) hat die brasilianische Impfkampagne sogar ein Maskottchen: Der grinsende Tropfen wurde in den 1980er Jahren erschaffen, um Werbung für die Polio-Schluckimpfung zu machen. Er ist längst Teil der brasilianischen Popkultur. Und trägt seit dem Corona-Ausbruch eine Schutzmaske.

Brasilien blickt auf eine traumatische Zeit zurück. Das grösste Land Lateinamerikas war monatelang weltweites Epizentrum der Pandemie. Mehr als 617 000 Menschen starben an dem ­Virus. Auch Ana Leila Gonçalves verlor eine Cousine und eine Nichte. Die 71jährige lebt in Jacutinga im nördlichen Randgebiet von Rio de Janeiro. Die Region zählt zu den ärmsten und gewalttätigsten Gebieten des Bundesstaates. Vor rund 30 Jahren besetzte Gonçalves mit ein paar anderen ein Stück Land. Heute lebt sie in einem kleinen Backsteinhaus mitten im Viertel.

Die Rentnerin leitet eine soziale Organisation, die ein Gebäude der katholischen Kirchen benutzt. Morgens teilt sie mit anderen Freiwilligen Essen aus. Heute gibt es nur Kuchen, die Schlange ist trotzdem lang. Hauptsache, irgendetwas zu essen. Es sind vor allem Mütter mit Kindern, die anstehen. Die Pandemie hat viele Arme hart getroffen – nicht nur gesundheitlich. In Vierteln wie Jacutinga sind die sozialen Auswirkungen der Pandemie verheerend.

Ana Leila Gonçalves hat keine Sekunde gezögert, den Ärmel hoch­zukrempeln. (Foto: Niklas Franzen)

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Auch Gonçalves hat es nicht leicht. Ihre Rente ist klein und reicht kaum zum Überleben. Vor der Pandemie flocht sie nebenbei Zöpfe, ging putzen. Doch seit Beginn der Pandemie geht das nicht mehr. Fast alle in Jacutinga verloren ihre Jobs, fest angestellt war hier so gut wie niemand. Das grösste Pro­blem? «Der Hunger», meint Gonçalves. Mindestens 19 Millionen Menschen in Brasilien hungern, wie Studien zeigen. Die Befürchtung ist, dass es noch viel schlimmer wird. Hoffnung steckt Gonçalves in die Impfkampagne. Keine Sekunde habe sie gezögert, den Ärmel hochzukrempeln. Bereits dreimal ist sie geimpft.

Brasilien ist durch die Erfahrungen mit anderen Epidemien krisenerprobt. Die staatlichen Forschungsin­stitute Butantan und Fiocruz sind weltweit bekannt. Das Land produziert zwei eigene Impfstoffe, die bald auf den Markt gehen könnten. Ebenso soll ab 2022 der Biontech-Impfstoff in Brasilien hergestellt werden. Rund 100 Millionen Dosen soll das Land dann pro Jahr produzieren.

Dabei lief die Impfkampagne schleppend an. Das lag zum einen dar­an, dass die Industrienationen Anfang des Jahres viele Impfstoffe für sich horteten. Zum anderen schlug der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro Angebote für den Erwerb von Biontech-Impfstoffen aus. «Er hat alles falsch gemacht, was man falsch machen kann», sagt Gonçalves. Und: «Wie viele Leben hätten wir retten können, wenn er nicht unser Präsident wäre?»

Bolsonaro erklärte auch, sich nicht impfen zu lassen, und behauptete, dass man sich durch die Impfung in einen Kaiman verwandeln könne. Doch mit seiner Ablehnung steht er unterdessen weitestgehend alleine da. Der Arzt Kallás sagt: «Glücklicherweise ist die brasilianische Bevölkerung klüger als der Präsident.»

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