US-Desaster in Afghanistan:

«Ich weiss nicht, wer hier die Bösen sind»

Oliver Fahrni

20 Jahre lang hielt der ­Westen Afghanistan besetzt. Jetzt mussten die Truppen das Land räumen. Zurück bleibt eine humanitäre ­Katastrophe und eine afghanische ­Gesellschaft, die sich neu erfinden muss.

DEMO VOR DER UNIVERSITÄT KABUL: Ein Mädchen mit einer Hygienemaske schwenkt eine Taliban-Flagge. (Foto: Getty)

Die letzte Drohnen-Rakete, die US-Soldaten vor ihrem Rückzug abfeuerten, tötete in Kabul 7 Kinder und 3 erwachsene Zivilisten in einem weissen Toyota. «Ein Irrtum», sagte US-General Kenneth McKenzie.

Eher ein Symbol. Nicht allein für die Jahrzehnte der Gewalt, die eine US-geführte Koalition des Westens über die Afghaninnen und Afghanen brachte, mit Zehntausenden Toten und noch mehr Verstümmelten. Die Rakete, per Joystick hinter einem Bildschirm losgeschickt, steht symbolisch für den gesamten Afghanistan-Feldzug.

Es war der längste und teuerste Krieg der USA seit 1945. Über die Jahre waren 775’000 Soldatinnen und Soldaten am Hindukusch-Gebirge stationiert. Wozu? Ein amerikanischer Drei-Sterne-General gab 2018 zu Protokoll: «Wir wussten nicht, was wir in diesem Land taten.» Afghanistan war ein blinder Fleck. Wildwest im wilden Osten. Die US-Militärbasen hiessen denn auch «Geronimo» und «Apache». 2003, zwei Jahre nach dem Einmarsch in Afghani­stan, stöhnte Donald Rumsfeld, der kriegstreibende Verteidigungsminister von Präsident George W. Bush: «Ich kann nicht erkennen, wer hier eigentlich die Bösen sind!»

Die beiden Aussagen sind in den Protokollen des «US-Generalinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans» nachzulesen. Mehr als 2000 Seiten dieser «Afghanistan Papers» wurden im Dezember 2019 von der Zeitung «Washington Post» enthüllt.

Es sind erschütternde Dokumente aus dem Innern einer Weltmacht, die nichts von dieser Region versteht, sich aber anmasst, sie militärisch neu zu ordnen. Dokumente über kolonialistische Ignoranz, über Feuer, Folter und Korruption. Wie James Dobbins, der Sonderbotschafter Bushs (und Barack ­Obamas) für Afghanistan formulierte: «Wir fallen nicht in arme Länder ein, um sie reich zu machen. Wir überfallen keine Diktaturen, um sie zu demokratisieren. Wir besetzen Länder, um eine Gefahr auszuschalten. In Afghanistan sind wir klar gescheitert.»

Nur gescheitert? Das schönt die Bilanz dessen, was Präsident Bush 2001 als «unbegrenzten Krieg der Zivilisation gegen den Terrorismus» lanciert hatte. Ein trügerisches Etikett. Tatsächlich ging es um die Kontrolle über das Öl und das Erdgas Zen­tralasiens. 20 Jahre später und nach dem Einsatz von 2000 Milliarden Dollar hinterlässt der Westen ein ausgeblutetes, tief gespaltenes, bitterarmes Afghanistan, dessen Bevölkerung vor einer Hungerkatastrophe steht. Mindestens 14 Millionen Afghaninnen und Afghanen, so warnt die Uno, werden in den kommenden Wochen nicht wissen, wie sie zu Nahrung kommen.

«In Afghanistan sind wir klar gescheitert.»

FLUCHT VOR DER DÜRRE

US-Truppen hatten die Taliban 2001 aus Kabul vertrieben. Am 15. August 2021 waren diese zurück, ohne auf Widerstand zu stossen. Und fanden eine westlich aufgebrezelte 6-Millionen-Metropole vor, mit Internetcafés, Nachtclubs, Theatern, den berühmten Hochzeit-Dancings und gepflegten Rasenflächen der neuen, dünnen Mittelschicht. Eine typische «Expatriierten»-Stadt, in der alles auf das Geld und das Wohlergehen der Kolonialverwaltung, der zahllosen «Berater», des Personals der Hilfsorganisationen und der privaten Sicherheitsfirmen ausgerichtet war.

Aber auch eine Stadt mit wachsenden Elendsquartieren. 580’000 Menschen sind vor den letzten Kriegshandlungen geflohen (zu mehr als drei Vierteln Frauen und Kinder). Mehr Menschen noch hat die Dürre vom Land an den Rand der Städte Kabul, Herat, Jalalabad oder Kandahar vertrieben. Afghanistan ist von der Klimakatastrophe besonders stark betroffen.

Dass sich das Land auch jetzt nicht selber helfen kann, dafür sorgt der Westen. Washington und der Internationale Währungsfonds haben die Guthaben der afghanischen Zentralbank (7 Milliarden ­Dollar) blockiert. US-Präsident Joe Biden erwägt ein Totalembargo. Deutschland hat alle Hilfsgelder eingefroren (im Unterschied zur Schweiz). Und die afghanischen Kolonialeliten haben sich mit vollen Geldkoffern davongemacht wie Präsident Ashraf Ghani.

Zumindest auf die Taliban aber ist Verlass. Die riefen sofort ein islamisches Emirat aus. Und lieferten mit ihrem bunt-martialischen Aufzug prompt die ideale Projektionsfläche für das westliche Geschwätz von den bärtigen Steinzeit-Barbaren, die nur Rache und die Unterdrückung der Frau im Sinn haben. Und neuen Terrorismus in den Westen tragen wollen. Derlei lenkt von der eigenen Verantwortung ab.

Zwar haben die neuen Herrscher, zumindest in den Städten, bisher keine heftigen Repressionswellen losgetreten. Frauen können weiter studieren, aber räumlich getrennt von Männern. In einem Communiqué schrieben die Taliban: «Frauen sind die ersten Opfer der letzten 40 Jahre. Wir wollen nicht, dass sie Opfer sind. Sie sollen studieren und arbeiten können.»

Mit ihren politischen Gegnern haben die Taliban Gespräche aufgenommen, etwa mit dem früheren Präsidenten von US-Gnaden, Hamid Karzai, oder mit Ahmad Massoud, der bis weit in den September hinein im Pandschir-Tal gegen die Taliban gekämpft hatte. Eine Amnestie ist versprochen, ebenso die Rückkehr der Mädchen in die Schule und einiges mehr. Die öffentlichen Dienste beginnen schon wieder zu funktionieren. Die Taliban scheinen gut vorbereitet. Italienische Diplomaten beschreiben Taliban-«Politikchef» Abdul Ghani Baradar als weltläufig und strategisch klug. Baradar ging mit 11 Jahren in den Untergrund gegen die sowjetische Besatzung (siehe Text unten) und ist einer der beiden Gründer der Taliban. Er hat US-Gefangenschaft und Folter durchlitten. Heute gehört er zum innersten Führungszirkel.

JAHRE DES SCHRECKENS

Gegen die Taliban aber spricht die Erfahrung ihrer ersten Herrschaft von 1996 bis 2001. Es waren «Jahre des Schreckens» für Afghanistans Frauen, Intellektuelle, Künstlerinnen und Oppositionelle, erinnert sich Schukria Barakzai, Journalistin, Politikerin und Diplomatin. Die Greuel jener Zeit sind gut dokumentiert, die Taliban liessen keine Brutalität aus, um die Gesellschaft nach ihren puritanischen Vorstellungen zu formen. Ende August floh Barakzai in einer der letzten britischen Militärmaschinen aus Kabul nach London.

Andere Kämpferinnen für die Gleichstellung sind geblieben, organisieren Demos und Untergrundschulen, betreiben heimlich Frauenberatungsstellen und Blogs.

Pashtana Durrani etwa ist noch da, die junge Präsidentin einer Organisation für Frauenbildung. Durrani gab US-Sendern Interviews ohne Burka. Hat sie keine Angst? «Gewisse Dinge tut man, andere nicht mehr. Aber ich habe Strom. Ich habe Internet. Also spreche ich. Die Frage ist eher: Hört ihr auch zu?»

Viele Afghaninnen halten Bushs Satz von 2001, er habe die Frauen Afghanistans befreit, für schiere Kriegspropaganda. Eine frühere Abgeordnete, die wir hier Soraya nennen, konnte work in Kabul telefonisch erreichen. Sie sagt: «Das Gegenteil ist wahr. Das Bündnis der Amerikaner mit den Kriegs- und Drogenfürsten hat die konservativen Kräfte der Gesellschaft gestärkt. Wir Frauen haben viel Zeit verloren.» Schon vor Jahren war Soraya das Ziel von Mordanschlägen, weil sie sich öffentlich gegen die US-Besatzer und die Korruption gestellt hatte. Sie sagt: «Ich verstecke mich nicht, aber ich halte mich bedeckt. Wir werden sehen, wie lange wir widerstehen können.» Menschenrechtsorganisationen berichten von ersten Verhaftungen und Tötungen, meist ausserhalb Kabuls.

Etwas wolle sie uns noch auf den Weg mitgeben, sagt Soraya: «Im Westen fragt ihr, warum dieses Regime so schnell zusammengefallen ist. Afghanistan hat 40 Jahre Krieg hinter sich. Wir sind eine komplexe Gesellschaft mit uralter Geschichte, keine Leerstelle wie auf eurer geistigen Landkarte. Besser solltet ihr fragen, wie das alte Regime funktioniert hat.»

Tatsächlich war der Ausgang des Krieges längst klar. Der frühere US-Präsident Donald Trump hat Afghanistan den Taliban bereits im Februar 2020 übergeben, als er mit ihnen in Doha (Katar) einen Deal schloss. Ohne die afghanische Regierung oder die europäischen Alliierten auch nur zu konsultieren. Für die USA gab es hier nichts mehr zu gewinnen.

Die Taliban sind keine religöse Bewegung, sondern eine politische.

NATIONALISTISCHE BEWEGUNG

In Kabul kursiert folgende Anekdote: Am Abend des 14. August ging der Polizist Omar nach Hause. Am nächsten Morgen hatte er die Uniform abgestreift, die Kalaschnikow umgehängt und trug die weisse Taliban-Fahne. Die Taliban waren nie wirklich weg. Sie sind Teil der Gesellschaft. Keine Besatzer.

Ursprünglich stammt die Taliban-Bewegung aus Kandahar im Süden des Landes. Sie hatte sich in den Religionsschulen organisiert, unter Einfluss des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Viele Taliban-Kader sind Rechtsgelehrte des Deobandismus, eines fundamentalistischen Zweiges des Islam, der auf dem indischen Subkontinent gewachsen ist. Doch die Taliban sind in der Essenz, wie viele Islamistengruppen in anderen Ländern auch, keine religiöse, sondern eine politische, nationalistische Bewegung. Dies wird oft missverstanden, weil diese Gruppen ihr Vokabular, ihr politisches Referenzsystem eher in der eigenen Geschichte als beim dominanten Westen suchen. Menschenrechte sind universell. Aber die westliche Form der Demokratie dürfte in den vergangenen 20 Jahren in Afghani­stan nicht viele neue Anhängerinnen und Anhänger gefunden haben.

Diese Unterscheidung ist wichtig, will man die Durchschlagskraft der Taliban verstehen. Afghani­stan-Kenner Gilles Dorronsoro sagt: «Ein funktionierender Staat und verlässliches Recht sind im (bürger)kriegsgeplagten Vielvölkerland Afghani­stan starke Bedürfnisse der Bevölkerung.» Dorronsoro forscht seit 30 Jahren in Afghanistan und ­leitet das europäische Forschungsprogramm «Bürgerkriege». Eine Weile hat er auch für die Carnegie-­Stiftung gearbeitet, also die US-Regierung beraten. ­Vergeblich.

KORRUPTION ALS REGIERUNGSFORM

Wo immer sich die Taliban in den Jahren nach ihrer Vertreibung wieder festsetzten, manchmal militärisch, manchmal durch Abkommen mit lokalen Clans, haben sie Schatten-Verwaltungsstrukturen geschaffen und eigene Richter ernannt. War ein Kläger reich genug, den Richter zu bestechen, klagte er am offiziellen Gericht. Hatte er das Geld nicht, rief der Kläger einen Taliban-Richter an. Die sind streng, aber nicht korrumpierbar. Für die Taliban ist das eine zentrale politische Frage. Sie kennen die Verlockungen lokaler Beziehungsnetze. Noch im Untergrund haben sie ein Rotationssystem eingerichtet: Alle drei bis fünf Jahre werden die Richter in eine andere Landesgegend geschickt.

Von all dem aber haben die US-Strategen nichts verstanden. Nichts verstehen wollen, wie Dorronsoro präzisiert. In seinem neuesten Buch, das im Februar 2021 erschien, analysierte er ihre «vorhersehbare Niederlage» als direktes Ergebnis der «transnationalen Regierung», die Washington Afghanistan übergestülpt hat: einen neoliberal verschärften Kolonialismus.

In klassischer Kolonialistenmanier setzten die US-Amerikaner auf lokale Kriegsfürsten (egal, wie brutal die agieren), auf «die Stämme» (eine west­liche Fiktion) und auf das Anheizen «ethnischer» Spannungen. So versuchten sie etwa, Tadschiken gegen Paschtunen auszuspielen. Gleichzeitig privatisierten sie den Krieg und den «Wiederaufbau». ­Private Gewaltunternehmer und Nichtregierungs­organisationen übernahmen. Sie kassierten einen satten Teil der 2000 Milliarden. Gilles Dorronsoro: «Verheerend ist, dass die Amerikaner den Staat, den sie eigentlich aufzubauen vorgaben, systematisch umgingen und ausschalteten.»

Sind die einzigen Ressourcen des Landes das fremde Geld und der Drogenhandel, ist Korruption keine individuelle Schwäche mehr, sondern eine Regierungsform.

Das bemisst die immensen Probleme, die eine Taliban-Regierung nun zu lösen hat. Vorerst aber muss sie die humanitäre Katastrophe abwenden. Und die Sicherheitslage in den Griff bekommen:

«IS-K», der afghanische Ableger des Islamischen Staates, will die Taliban wegbomben. Nach der Niederlage im Irak und in Syrien braucht er ein neues Territorium. «IS-K» wirft den Taliban unter anderem vor, nicht gegen die Hazara, die schiitische Minderheit in Afghanistan, vorzugehen. Und sich nicht in den globalen Dschihad (heiliger Krieg) einzureihen.

Verschärfen in dieser Lage die USA und Europa den Druck auf die Taliban, könnte sich das Regime in Kabul verhärten. Sein militärischer Chef, Sira­dschuddin Haqqani, der Sohn eines früheren CIA-Lieblings und Taliban-Ministers, wartet nur darauf. Er ist kein netter Mensch.


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