Ökonom Thorsten Schulten über die neuen Töne aus Brüssel:

Spektakuläre Wende bei den Mindestlöhnen

Ralph Hug

Grosse Wende in der EU: Sie will jetzt plötzlich gesetzliche Mindestlöhne fördern und Gesamtarbeitsverträge stärken. «Mindestlohn-Papst» Thorsten Schulten erklärt, warum.

ANZEICHEN EINER WENDE: Thorsten Schulten beobachtet international einen Anstieg
der Mindestlöhne und räumt dem EU-Projekt «durchaus Chancen» ein. (Foto: ZVG)

work: Thorsten Schulten, bricht bei der EU in Brüssel gerade die soziale Revolution aus?
Thorsten Schulten: Nein, das kann man nicht sagen. Wieso?

Es erstaunt uns zu hören, dass die EU-Kommission die gesetzlichen Mindestlöhne in den Mitglied­staaten markant anheben will.
Es gibt tatsächlich Anzeichen für eine fundamentale Wende in der EU-Arbeits­politik. Davon zeugt der neue Mindestlohn-Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission. Er strebt angemessene Mindestlöhne für alle Beschäftigten in Europa an. Das sind neue Töne aus Brüssel.

Was ist denn unter «angemessenen Mindestlöhnen» zu verstehen?
Das sind Löhne, die den Arbeitnehmenden am Ort ihrer Arbeit einen ­angemessenen Lebensstandard ermöglichen. Kurz gesagt: Löhne, die zum Leben reichen. Oder, wie es im Englischen heisst, «living wages». Dafür gibt es anerkannte Indikatoren, etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns oder 50 Prozent des Brutto­durchschnittslohns.

Aber davon sind die derzeitigen Minimallöhne doch weit entfernt, oder nicht?
Ja, die Spanne reicht von Bulgarien mit 2 Euro Stundenlohn bis zu den 12,73 Euro in Luxemburg. Auch Deutschland mit seinen 9,50 Euro liegt unter der Grenze angemessener Entlohnung. Wir erreichen nur 48 Prozent des Bruttomedianlohns. Für die anerkannten 60 Prozent des Bruttomedianlohns müsste der Mindestlohn auf 12 Euro angehoben werden. Nur Frankreich und Portugal liegen über dieser Grenze.

«In Deutschland könnten 6,8 Millionen Arbeit-­nehmende profitieren, in Spanien 4,1 Millionen, in Polen 3,9 Millionen.»

Sind grosse Lohnanpassungen überhaupt realistisch?
Es hat immer wieder markante Er­höhungen gegeben, zum Beispiel in Spanien, wo der Mindestlohn in den letzten Jahren um mehr als 30 Prozent anstieg. Negative Folgen für die Beschäftigung stellten sich entgegen den Befürchtungen der Arbeitgeberseite nicht ein, sehr wohl aber positive Effekte für die Konjunktur. Höhere Löhne verschaffen ja auch Kaufkraft und kurbeln das Wirtschaftswachstum an. Kommt das Vorhaben der EU-Kommission durch, könnten allein in Deutschland 6,8 Millionen Arbeitnehmende, in Spanien 4,1 Millionen und in Polen 3,9 Millionen davon profitieren. In manchen Ländern würden die Lohnzuwächse sicher nicht in einem Schritt, sondern auf mehrere Jahre verteilt werden.

Warum diese spektakuläre Wende? Noch während der Finanzkrise wollte die EU die Mindestlöhne senken und die Gewerkschaften schwächen.
Die EU hat in den letzten Jahren viel an Legitimität und Vertrauen eingebüsst. Siehe Griechenland, Brexit, Rechtspopulismus oder die vielen Anti-EU-Parteien in Europa. Brüssel hat begriffen, dass man durch eine ­sozialere Politik das Vertrauen der ­Bevölkerung zurückgewinnen muss. Die Mindestlohn-Richtlinie ist wohl das wichtigste Projekt einer neuen ­Politik, die auf die Stärkung der sozialen Säulen abzielt.

Da haben aber die Arbeitgeber und Rechtskreise etwas dagegen!
Klar gibt es grosse Widerstände. Gegen höhere Mindestlöhne stellt sich eine spezielle Allianz aus neoliberal regierten Ländern wie Österreich und den Niederlanden im Verein mit den rechtspopulistischen Polen und Ungarn sowie den sozialdemokratischen Dänemark und Schweden.

Wieso machen ausgerechnet SP-regierte Staaten Opposition gegen eine Mindestlohn-Richtlinie?
Das hat mit der sozialpartnerschaft­lichen Tradition in diesen Ländern zu tun. Sie fürchten um ihr bisheriges Modell, in dem die Löhne durch Tarifverhandlungen und nicht durch den Staat festgelegt werden. Solche Vor­behalte findet man bei manchen Gewerkschaften. Auch in Deutschland gab es lange Zeit starke Widerstände gegen gesetzliche Mindestlöhne, etwa bei den Industriegewerkschaften. Inzwischen hat sich das aber geändert. Heute unterstützen alle Gewerkschaften im DGB angemessene Mindestlöhne zur Existenzsicherung.

«Brüssel hat begriffen, dass man durch eine sozialere Politik das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen muss.»

Mit Gegnern ist also zu rechnen.Welche politischen Chancen geben Sie der neuen Richtlinie?
Das Projekt ist sehr umstritten, aber es hat durchaus eine Chance. Höhere Mindestlöhne sind auch im aufgeschlossenen Flügel der Konservativen salonfähig. Gelingt es, diese ins Boot zu holen, so kann die Richtlinie durchkommen. Sie ist ja teils auch ziemlich vage formuliert. Es wird vor allem auf Deutschland und Frankreich ankommen. Wünschenswert wäre, wenn etwa der französische Präsident Emmanuel Macron den Mindestlohn für seinen Wahlkampf im nächsten Jahr entdecken würde. Er könnte damit im Kampf gegen die Rechtsextremen sozial punkten.

Sie haben das Thema Mindest­löhne während Jahren untersucht. Stimmt es, dass sie sich im Aufwind befinden?
Ja, seit einigen Jahren stellen wir ­einen markanten Anstieg der Mindestlöhne fest, auch wenn dieser jetzt durch die Corona-Pandemie etwas gebremst wird. Dies zeigen die Zahlen, aber auch die sozialen Bewegungen und Kampagnen, die bessere Löhne fordern. Denken Sie an «Fight for Fifteen» in den USA, die sich für einen Stundenlohn von 15 Dollar einsetzt. Und in den Niederlanden fordert eine gewerkschaftliche Kampagne einen Mindestlohn von 14 Euro.

Die Gewerkschaften in der Schweiz versuchen jetzt, Mindestlöhne in den Kantonen durchzusetzen …
Wenn es auf der nationalen Ebene nicht klappt, muss man es halt darunter versuchen. In den USA gab es seit elf Jahren keine Anpassung des Mindestlohns mehr. Alle Vorstösse sind an der republikanischen Mehrheit im ­Senat gescheitert. Bei Ihnen in der Schweiz fiel ja die Mindestlohninitiative im Jahr 2014 durch. Ich habe damals bei den Gewerkschaften referiert und war über den Ausgang der Volksabstimmung sehr enttäuscht. Umso schöner, wenn es jetzt kantonale ­Erfolge gibt.

Erstaunlich, dass die EU nicht nur höhere Mindestlöhne anstrebt, sondern sogar die Gesamtarbeitsverträge stärken will. Warum das?
Die EU hat eben eingesehen, dass das Tarifsystem – also Gesamtarbeitsverträge – kein Wettbewerbshindernis ist, sondern die Entwicklung einer Wirtschaft fördert, die allen dient, und auch ein Mittel gegen Ungleichheit ist. Daher ist vorgesehen, dass alle Länder, in denen die Tarifbindung ­unter 70 Prozent liegt, aktiv werden müssen. Die Regierung muss mit den Sozialpartnern einen Aktionsplan entwickeln, wie das Tarifsystem gefördert werden kann.

Welche Massnahmen stehen dabei im Vordergrund?
Denkbar sind Massnahmen, die es erleichtern, dass Tarifverträge allgemeinverbindlich werden. Oder dass bei öffentlichen Aufträgen Treuevorgaben formuliert werden – den Auftrag bekommt dann nur, wer den Tarif einhält.

Thorsten Schulten: Mindestlohn-Papst

Prof. Dr. Thorsten Schulten (55) gilt als «Mindestlohn-Papst» im deutsch­sprachigen Raum. Kaum jemand hat so viel zum Thema Mindestlöhne geforscht wie er. Zahlreiche Publikationen zeugen davon. Schulten arbeitet seit 1997 bei der deutschen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf, einer Institution des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Er leitet dort das Tarifarchiv ­des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI). Schulten ist Politologe, Soziologe und Ökonom und lehrt zudem an der Universität ­Tübingen.


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