Es ist Spargelzeit – doch wer holt sie aus dem Boden?

Ohne Polen wären wir längst verloren

Jonas Komposch

Die ganze Schweiz ist im Spargelrausch. Nun zeigt eine Studie:­ Hinter dem Königsgemüse stecken ­Hungerlöhne.

AUFWENDIGE ERNTE: Spargelstechen ist und bleibt Handarbeit, eine niflige Büez, die in der Schweiz vor allem von Polinnen und Polen geleistet wird. (Foto/Symbolbild: Keystone)

Kaum ist Frühling, streiten sich Gourmets über Spargeln. Grün oder weiss? Gekocht oder grilliert? Mit Sauce hollandaise oder nature? Die Spargeln polarisieren. Zumal sie für viele bloss überteuerte Stengel sind – mühsam in der Zubereitung und mit Geruchsfolgen nach dem Verzehr. Andere vergöttern sie dagegen als Edelgemüse, als obligaten Gaumenschmaus, der die Blütezeit und ihre fröhlichen Begleiterscheinungen einläutet. Oder wie es der Refrain eines berühmten Foxtrotts aus den 1920er Jahren trällert: «Veronika, der Lenz ist da. Die Mädchen singen Tralala. Die ganze Welt ist wie verhext. Veronika, der Spargel wächst!» Und auch heute noch scheint so manches verhext, wenn das Stangengemüse wächst.

«SPARGEL-LUFTBRÜCKE»

Beispiel Deutschland 2020: Pandemiebedingt waren viele Grenzen dicht. Abertausende Saisonniers aus Osteuropa steckten in ihrer Heimat fest. Aber wer, wenn nicht sie, würde die viertgrösste Spargelernte der Welt einbringen? Die Bundesregierung reagierte prompt mit einer «Spargel-Luftbrücke». Unzählige Sonderflüge brachten die begehrten ­Arbeitskräfte gerade noch rechtzeitig auf Deutschlands Äcker. Eine Reise, die später manche bereuten. Im rheinländischen Bornheim etwa mussten 200 rumänische Spargel­stecher streiken, damit sie Lohn und ordentliche Unterkünfte erhielten. Und bei Freiburg im Breisgau wurde ein 56jähriger Rumäne eines Morgens tot in seiner Baracke aufgefunden. Er hatte sich im Ernteeinsatz mit Corona infiziert.

Deswegen den Arbeiterschutz verbessert hat CDU-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner aber nicht. Im Gegenteil winken deutschen ­Gemüsebauern abermals Sonder­genehmigungen. Saisonniers sollen neuerdings 102 Tage ohne Krankenversicherung angestellt werden dürfen. Hauptsache, der Markt bleibt ­«gesund»!

Pro Woche chrampfen Spargelstecher 45 bis 66 Stunden. Mindestens.

66-STUNDEN-WOCHEN ERLAUBT

In der Schweiz werden die Spargeln hauptsächlich von Polinnen und ­Polen geerntet. Kämen sie als Touristinnen und Touristen ins Land, müssten sie für 10 Tage in Quarantäne. Aber als Saisonniers gelten sie als «systemrelevant» und können nach Vorlegen eines negativen Coronatests und einer Registrierung sofort arbeiten. Immerhin haben sie neu Anspruch auf ein eigenes Schlafzimmer. Ansonsten hat sich ihre Lage aber nicht verbessert. Nach wie vor ist die gesamte Landwirtschaft vom Arbeitsgesetz ausgenommen. Stattdessen gilt in jedem Kanton ein eigener Normalarbeitsvertrag (NAV). Und ­damit ein schweizweiter Flickenteppich, der Wochenarbeitszeiten von 45 Stunden in Genf und bis zu 66 Stunden in Glarus zulässt. Die tatsächliche Arbeitszeit jedoch liegt im Schnitt 10 Prozent über dem erlaubten Maximum. Dies zeigen die Schweizer Historiker Gilles Bourquin und Jan Chiarelli in ihrer neuen Studie «Landarbeiterinnen und -arbeiter in der Not» (online: rebrand.ly/landarbeiternot).

Ausserdem ist in allen NAV die Sechs­tagewoche Standard, Sonntagsarbeit ebenso und eine bezahlte Znünipause die rare Ausnahme. Dafür darf der Chef in der Erntezeit Überstunden ­anordnen. Und die Löhne frei bestimmen. Denn ein gesetzliches Minimum gibt es nicht, bloss eine Richt­linie des Schweizerischen Bauern­verbands (SBV). Ihre unterste Stufe ­beträgt 3300 Franken brutto. Davon dürfen fast 1000 Franken für Verpflegung und Unterkunft abgezogen werden. Was bleibt, ist ein Hungerlohn.

DRUCK VON COOP UND MIGROS

Kein Wunder, chrampfen immer weniger Schweizerinnen und Schweizer in der Landwirtschaft. Ihre Anzahl ist seit dem Jahr 2000 um über 30 Prozent gesunken, jene der ausländischen Arbeitskräfte dafür in die Höhe geschossen. Im Gmüeslerkanton Bern um 31,5 Prozent, im Wein- und Aprikosenland Wallis um 48 und in Mostindien, im Thurgau, sogar um 76 Prozent. Hinzu kommen jährlich 30’000 Saisonniers aus Polen, Rumänien, Ungarn oder Portugal. Um ihre Familien durchzubringen, verlassen sie diese monatelang – Jahr für Jahr.

Wer aber ist für diese Situation verantwortlich? Die Gemüsebäuerinnen und -bauern nur bedingt, betonen die Autoren der Landarbeiter­studie. Entscheidend seien Coop und Migros, die rund die Hälfte des Lebensmittelhandels abdeckten. Damit hätten die Detailhandelsriesen eine «duopolistische Situation» etabliert, sie beherrschten den Markt. Das führe zu einer Konzentration der Produktion und zu immer stärkerem ­Ertragsleistungszwang. Unweigerlich steige so der Druck auf die Einkommen der Bauern und letztlich auch auf die Löhne ihrer Mitarbeitenden. Besonders gilt das für den Spargelmarkt. Er ist ungeschützt, die Spargeln ein zollfreies Gut. Nicht einmal jede zehnte in der Schweiz verzehrte Spargel stammt auch von hier. Sondern aus Gegenden, wo Arbeit noch billiger zu haben ist: aus Spanien, ­Mexiko oder Peru. Und immer öfter auch aus China.

Petition: Ackern nur mit Mindestlohn

Ob bei gleissender Sonne oder strömendem Regen – die Gemüseernte verlangt dem Körper Extremes ab. Trotzdem ist sie miserabel bezahlt: Im Schnitt 14 Franken brutto erhalten landwirtschaftliche Angestellte für eine Stunde Buckeln auf dem Acker. Mit solchen Tiefstlöhnen soll endlich Schluss sein. Das fordert «Widerstand am Tellerrand», ein neues Netzwerk für eine sozial nachhaltige Landwirtschaft, von ­­den Regierungen der Kantone Bern und Zürich.

4000 FRANKEN. Die beiden Kantone sollen als Pionierkantone vorangehen und ihre Normalarbeitsverträge für landwirtschaftliche Angestellte wie folgt verbessern: 1. Reduktion der wöchentlichen Maximalarbeitszeit von 55 auf 45 Stunden. 2. Einführung eines verbindlichen Mindestlohnes von 4000 Franken. Die entsprechende Onlinepetition wird auch von der Unia, dem Solifonds, der Grünen Partei Schweiz und der SP des Kantons Zürich unterstützt. www.widerstand-am-tellerrand.ch

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