Vor 200 Jahren starb auf der Insel Sankt Helena jener gewalttätige Kriegstreiber, der die Eidgenossen Mores lehrte

Ohne Napoleon keine moderne Schweiz

Hans Ulrich Jost

Er brachte uns politische Zivilisation und den Föderalismus: der französische Kaiser Napoleon I. Doch dar­an erinnert sich die Schweiz nur ungern. Historiker Hans Ulrich Jost verrät, warum.

MIR NACH! Napoleon Bonaparte war ein gewalttätiger Autokrat. Doch ohne ihn gäbe es die moderne Schweiz nicht. Vielleicht gäbe es die Schweiz sogar gar nicht mehr. (Foto: Google Art Project)

Das Schicksal der Schweiz liegt ganz in den Händen eines Mannes: Napoleon Bonaparte. Der kleine General aus Korsika hat mit einem Staatsstreich im revolutionären Frankreich soeben die Macht erobert. Sein Ziel: die Herrschaft über Europa.

Die Schweiz war und ist ein Land in der Mitte Europas.

EIDGENOSSEN IM CHAOS

1798 ist die Schweiz von französischen Truppen besetzt. Es herrscht Chaos: Die einheimischen Politiker sind unfähig, einen neuen Staat zu schaffen. Die Kantone sind untereinander zerstritten. Und die ehemaligen Untertanengebiete, etwa der Aargau und die Waadt, fordern die Unabhängigkeit. Es kommt zu bewaffneten Aufständen. Zu antisemitischen Übergriffen gegen Jüdinnen und Juden, die im aargauischen Endingen und in Lengnau wohnen.

Angesichts dieser Zustände kommt in diplomatischen Kreisen Europas die Idee auf, die Schweiz aufzulösen und die einzelnen Teile unter den Nachbarn zu verteilen. In Paris diskutiert man jedoch eine andere Lösung: Die Schweiz soll Frankreich als Puffer gegen die Habsburgermonarchie in Österreich dienen und saniert werden. Gleichzeitig soll sie den französischen Armeen Söldner liefern. Man sucht in Paris nach einer passenden Staatsform, die die Schweiz retten könnte. 1802 schreibt Napoleon an Minister Charles-Maurice de Talleyrand: «Ich brauche eine gesicherte Grenze und eine an Frankreich gebundene helvetische Regierung.»

Eine vierköpfige Kommission von prominenten Staatsrechtlern macht sich in Paris an die Ausarbeitung einer helvetischen Staatsordnung. Am 24. Januar 1803 liegt diese vor und wird Mediationsakte getauft. Eine Delegation von Schweizern verfolgt in Paris die Redaktion der neuen Verfassung. Mitspracherecht haben die Eidgenossen keines. Von Napoleon kommandiert, unterzeichnen sie diese neue Verfassung am 19. Februar 1803. Und im September kommt dann ein Vertrag mit Frankreich hinzu, in dem die Schweiz Napoleon ein Kontingent von 16 000 Söldnern zugesteht.

Hans Ulrich Jost, Historiker. (Foto: Franziska Scheidegger)

WILLHELM TELL & CO.

Warum soll man diesem Ereignis, bei dem die Eidgenossen nicht gerade eine gute Figur machten, Beachtung schenken? Weil die na­poleonische Mediationsakte die Grundsteine der noch heute gültigen Staatsform der Schweiz legte. Wichtigste Elemente waren der ­Föderalismus und die Schaffung von sechs neuen Kantonen: St. Gallen, Graubünden, Aargau, Thurgau, das Tessin und die Waadt. So ­kamen die ehemaligen Untertanen­gebiete frei. Damit standen der konservativen und aristokratischen Schweiz neue, liberale Kräfte entgegen, die 1848 schliesslich den ak­tuellen Bundesstaat erkämpften.

Die Geschichte um die Mediationsakte wird hierzulande nur ungern in der Öffentlichkeit diskutiert. Dass die moderne Schweiz auf einem Diktat Napoleons beruht, ist nur schwer einzugestehen. Hinzu kommt, dass die Grossmächte der Schweiz am Ende der napoleonischen Herrschaft, am Wiener Kongress von 1815, auf der Basis der Mediationsakte eine neue Verfassung diktierten. Dabei legten sie staatsrechtlich erstmals die Neutralität fest. Bei diesem Ereignis war die Schweiz genauso zerstritten wie zwölf Jahre zuvor – und nur Zaungast.

SOUVERÄNITÄT ALS ILLUSION

Wir mögen uns über diese Geschichte ärgern oder freuen – Tatsache ist jedenfalls, dass die moderne Schweiz in erheblichem Masse unter dem Einfluss, ja dem Druck der internationalen Staatengemeinschaft zustande kam. Doch mit dem im 19. Jahrhundert aufkommenden nationalistischen Patriotismus wollte man diese Tatsache lieber unter den Teppich wischen. Stattdessen prägte man Schweizer Mythen und Legenden: Wilhelm Tell, Niklaus von Flüe und die Schlachten der alten Eidgenossen. Sie verfestigten das mythisch verklärte Bild einer Schweiz, die selbständig und tapfer ihre Freiheit und Unabhängigkeit erkämpft. Die Geschichte der Schweiz zeigt jedoch etwas ganz anderes: dass die Souveränität, das heisst die absolute Durchsetzung des eigenen Willens, eine Illusion ist. Die Schweiz war und ist ein Land in der Mitte Europas und kann sich dem Einfluss der Mächte nicht entziehen. Im besten Fall gelingt es der Schweiz, sich ihnen einvernehmlich mit Verträgen anzupassen. Ohne Absprache mit den Nachbarn jedoch ist die Existenz der Schweiz nicht gesichert.

Und Napoleon, soll er nun für sein Eingreifen in der Schweiz gefeiert werden? Nein, denn er war ein gewalttätiger, eigensinniger und rücksichtsloser Autokrat. Wichtig war ihm allein die persönliche Macht. Seine Kriege kosteten Hunderttausenden das Leben. Wo seine «Grosse Armee» vorbeizog, breitete sich Armut aus. Napoleon hob auch das zuvor erlassene Verbot der Sklaverei auf. Seine vernünftigen politischen und juristischen Reformen, von denen wir heute noch profitieren, vermögen seine Untaten bei weitem nicht wegzuwischen.

* Hans Ulrich Jost ist Historiker. Von 1981 bis 2005 war er Geschichtsprofessor an der Universität Lausanne.


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