Das Schweizer Streikrecht: Ein Recht mit Regeln – und Grauzonen

Streiken ist in der Schweiz ein von der Verfassung garantiertes Recht. Ein Recht mit Wenn und Aber. work nennt die wichtigsten Regeln.

ZIEL ERREICHT: Am 4. November 2002 streikten landesweit 15 000 Bauarbeiter. Noch im gleichen Jahr kam der neue GAV zustande (Foto: Blockade des Bareggtunnels). (Foto: Keystone)

«Die Schweiz sah rot», titelte der «Blick». Am 4. November 2002 mündete der Kampf um die Frühpensionierung mit 60 in der Baubranche in einen landesweiten Streik, provoziert von einem ­Vertragsbruch des Baumeisterverbands. 15 000 Bauarbeiter beteiligten sich, 2000 von ihnen blo­ckierten den Bareggtunnel – das ­Nadelöhr des mittelländischen Strassenverkehrs. Die Baumeister lenkten schliesslich ein: Der flexible Altersrücktritt für Bauarbeiter, damals ein Pioniermodell, wurde eingeführt.

Doch der Streik hatte ein juristisches Nachspiel. Das Bundesgericht als letzte Instanz anerkannte zwar die Rechtmässigkeit des Streiks, verurteilte aber vier Geschäftsleitungsmitglieder der Unia wegen Nötigung zu Geldstrafen. Die Störung des Verkehrs am Bar­eggtunnel sei «unverhältnismässig» gewesen.

Das Beispiel zeigt: Streiks schaffen Öffentlichkeit. Mit Streiks lassen sich berechtigte Forderungen durchsetzen (90 Prozent aller Streiks enden mit einem vollen oder teilweisen Erfolg). Streiks können dennoch vor dem Richter enden. Was ist überhaupt erlaubt?

Auch wenn Arbeit und Lohn ruhen: Arbeits-verträge bleiben gültig.

STREIKRECHT, ABER FRIEDENS­PFLICHT

Das Streikrecht ist seit dem Jahr 2000 in der Bundesverfassung festgeschrieben. Es ist Teil der «Koalitionsfreiheit», also des Rechts von Angestellten, sich zum Schutz ­ihrer Interessen zusammenzuschliessen. Streiks sind zulässig, wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen und wenn sie als letztes Mittel eingesetzt werden. Der Arbeitsfriede ist nach Obligationenrecht Teil des Gesamtarbeitsvertrags (GAV), er verpflichtet die ­Vertragsparteien, auf Streiks zu verzichten, solange der Vertrag gültig und ungekündigt ist. Allerdings handelt es sich dabei um eine «relative Friedenspflicht» – sie beschränkt sich auf Angelegenheiten, die Bestandteil des GAV sind.

Umstritten ist, was gilt, wenn ein Vertrag ausläuft. Da es keinen Sinn ergibt, Verhandlungen erst nach dem Auslaufen des Vertrages zu führen, weil dann eine Vertragslücke entsteht und weil Protest­aktionen und Warnstreiks zu Vertragsverhandlungen gehören, ist die Friedenspflicht aus Sicht der Gewerkschaften in den letzten Vertragsmonaten zu relativieren.

Ein eigentliches Streikgesetz existiert für die Schweiz zwar nicht. Jedoch ergeben sich aus der gerichtlichen Praxis einige Voraussetzungen. So muss der Streik von einer Gewerkschaft getragen werden. Zudem hat der Streik Ziele zu verfolgen, die durch einen Gesamtarbeitsvertrag regelbar sind. Zum Beispiel höhere Löhne oder ein früheres Pensionsalter.

Und schliesslich sagt das Bundesgericht, ein Streik müsse «verhältnismässig» sein – ein Einfallstor für politisch gefärbte Gerichtsurteile, wie das Beispiel der Bareggblockade anschaulich macht.

Versteht man den Streik in seiner ursprünglichsten Bedeutung als kollektive Arbeitsverweigerung, ist diese also nur legal, um damit Forderungen nach bestimmten ­Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Ein Grenzfall war der grosse ­Frauenstreik 2019 für umfassende Gleichberechtigung, gleiche Löhne inklusive: Obwohl die Arbeitgeberverbände behaupteten, der Streik betreffe nicht konkrete GAV-Anstellungsbedingungen und sei deshalb illegal, legten viele Frauen (und solidarische Männer) die Arbeit zumindest für kurze Zeit nieder und wagten sich damit in eine Grauzone – zumeist straflos, denn ihre Chefs fürchteten, sich in der öffentlichen Meinung mit Sanktionen ins Abseits zu stellen. Eine Grauzone ist auch, wo Prostestaktionen aufhören und ein Streik anfängt. Meist haben die Arbeitnehmenden Überstunden auf einem Zeitkonto und können darüber frei verfügen. Wenn sie sich während Vertragsverhandlungen zu einer Protestversammlung während der Arbeitszeit versammeln und die Arbeitgeber diese Stunde nicht bezahlen, dann ist das kaum ein Streik.

UND DER LOHN?

Auch wenn der Streik legal ist: arbeitsvertraglich bedeutet er, dass die Hauptpflichten ruhen – also nicht nur die Arbeit, sondern auch die Lohnzahlung. In diesem Fall leisten die Gewerkschaften Lohnersatz, dafür haben sie eine Streikkasse (siehe work-Tipp). Als Unia-Mitglied erhalten Sie Lohnersatz in der Höhe eines Mindestlohns (22 Franken pro Stunde).

Die Firma darf also die Lohnzahlung für die Dauer des Streiks oder einer Protestaktion einstellen. Darf sie auch gleich die Entlassung aussprechen? Nein: Ist der Streik rechtmässig, bedeutet er keine Verletzung des Arbeitsvertrags und darf keine Strafaktionen nach sich ziehen. Wegen der Teilnahme am Streik ist also weder eine fristlose noch eine ordentliche Kündigung zulässig. Wird sie dennoch ausgesprochen, kann sie als missbräuchlich eingeklagt werden und berechtigt zu einer Entschädigung von bis zu sechs Monatslöhnen.

Worktipp: Nicht ohne die Unia

Wer streikt, setzt sich Risiken aus. Anfeindungen von Arbeitgeberseite und juristischen Fallstricken, um nur zwei wichtige zu nennen. Die Unia hat viele Erfahrungen mit Streiks gesammelt und unterstützt Belegschaften, die einen Arbeitskonflikt durchführen wollen, um ihre Interessen zu verteidigen – in der Planung, in der Organisation und bei den Verhandlungen. Stoppt die Firma während des Streiks die Lohnzahlung, bezahlt die Unia ­ihren Mitgliedern einen Lohnersatz aus der Streikkasse. Wenden Sie sich an das Gewerkschaftssekretariat Ihrer Unia-Region!


Streik im 21. JahrhundertEin Buch macht Mut

«Ein Streik ist kein Sonntagsspaziergang», schreibt Unia-Präsidentin Vania ­Alleva im Vorwort zum Buch «Streik im 21. Jahrhundert», das sie zusammen mit Ex-Unia-Co-Präsident Andreas Rieger herausgegeben hat. Der Band ist 2017 entstanden und belegt: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts nehmen Arbeitskämpfe in der Schweiz zu, weil der Druck auf die Arbeitenden und ihre Löhne steigt und die Schere zwischen den Erträgen aus Arbeit und jenen aus Kapital sich laufend weiter öffnet. Allein zwischen 2000 und 2016 verzeichnet die Liste der Streiks in Unia-Branchen 112 Einträge.

PRAXISNAH. Verschiedene Autorinnen und Autoren analysieren und kommentieren die Entwicklung aus Gewerkschaftssicht. Den grössten Raum nehmen aber die Fallbeispiele ein, welche die Strategien und Erfolge, aber auch ­Probleme und Widrigkeiten bei ­Arbeitskämpfen in Schweizer Firmen und Branchen beschreiben. Eine so spannende wie anschauliche Lektüre, aus der sich vieles für die Praxis lernen lässt.

Vania Alleva, Andreas Rieger (Hg.): Streik im 21. Jahrhundert. Rotpunktverlag 2017, 168 Seiten, CHF 25.–.

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