Massenstreiks in Deutschland – und dies während Corona

Der Schuhstreik der deutschen Metaller

Johannes Supe

So gehen Streiks in Coronazeiten: Um ihre Löhne und Stellen zu schützen, haben sich die deutschen Metallarbeitenden super Aktionen einfallen lassen.

FRÜHSCHLUSS! Zwei Stunde vor dem regulären Arbeitsende geht die Belegschaft nach Hause. (Foto: IG Metall NRW)

Dieses Mal sind es Industriearbeiter, die in Deutschland um einen besseren Lohn und den Erhalt ihrer Stellen ringen. Gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft, der IG Metall, führen sie einen Kampf von beeindruckendem Ausmass: Vom 2. März bis zum 12. März nahmen mehr als 400 000 Beschäftigte an Warnstreiks teil. Weitere Hunderttausende werden ihre Arbeit in den kommenden Tagen niederlegen. Denn die Metallerinnen und Metaller möchten nicht nur vier Prozent mehr Lohn, sondern auch die Industriebosse zum Verzicht auf Stellenabbau zwingen. Die aber wollen die Lasten der Krise auf die rund 3,9 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektrobranche abwälzen. So soll etwa das Weihnachtsgeld – ein in Deutschland zur Festzeit üblicher ­Bonus für die Beschäftigten – zusammengestrichen werden, wenn die Profite schwinden. Womit die Firmen nicht gerechnet haben: Das Coronavirus hat die Proteste nicht gestoppt, sondern vielfältiger gemacht. Nie zuvor gab es derart unterschiedliche Streikformen.

«Einige Leute brennen richtig
drauf, wieder auf die Strasse
zu gehen!»

DER SCHUHSTREIK

Wie macht man die Auswirkung von Stellenabbau sichtbar? Noch dazu, wenn sich die Betroffenen nur schwer versammeln können? Die Frage stellte sich den Beschäftigten von Siemens Energy. Der Konzern kündigte an, rund 3000 Arbeitsplätze in Deutschland vernichten zu wollen. Hagen Reimer von der IG Metall sagt zu work, auf die Antwort sei man durch Zufall gestossen. Beim Blättern durch alte Aktionsfotos. Dort, wo Stellen verloren gehen, stellen die Kolleginnen und Kollegen ihre Schuhe vors Werks­tor: Tausende Turn- und Arbeitsschuhe, von rosa Gummistiefeln zu abgenutzten schwarzen Tretern. Teils werden noch Grabkerzen und weisse Lilien beigelegt – eine Friedhofslandschaft aus verlas­senem Schuhwerk. So etwa vor dem Mühlheimer Standort, wo es zudem heisst: «Wir ­lassen uns nicht einfach vor die Tür stellen, sondern stehen zusammen!» Tausende haben sich mittlerweile an der Aktion beteiligt.

DER FRÜHSCHLUSS

Auf Leute wie Tobias Salin kommt es derzeit an. In einem der grössten Werke in Mittelhessen, das an dieser Stelle namenlos bleiben muss, arbeitet der 30jährige als Indus­triemechaniker. Und: Salin ist Vertrauensperson der IG Metall, übernimmt also auf der Arbeit wichtige Aufgaben für die Gewerkschaft. Zuletzt gehörte dazu, seinen Betrieb zeitweise lahmzulegen.

Um das zu erreichen, haben sich die Hessen für den «Frühschluss» entschieden: Zwei Stunden vor dem regulären Arbeitsende in allen drei Arbeitsschichten ist Ende, die Belegschaft geht nach Hause. Salin sagt: «Das hat sehr gut geklappt. In der Produktion ging nichts mehr.» Im Vorfeld der Aktion seien die Betriebsaktivistinnen und -aktivisten von den Hauptamtlichen der Gewerkschaft geschult und unterstützt worden. Doch letztlich lag es eine halbe Stunde vor dem «Frühschluss» an den Vertrauensleuten, noch einmal durch ihre Abteilungen zu gehen, die Kolleginnen und Kollegen noch einmal über rechtliche Fragen aufzuklären und in den frühen Feierabend zu schicken. Der Einsatz habe sich gelohnt. Am Streiktag seien mehrere Beschäftigte der Gewerkschaft beigetreten, einige wollten gar selbst Vertrauensperson werden.

DER KLASSIKER

Beeindruckende Bilder kommen aus dem bayrischen Schweinfurt. Gut 1000 Metallerinnen und Metaller stehen hier immer ­wieder zur Grossdemonstration beisammen. IG-Metall-Mann Timo Günther erklärt: «Schweinfurt, das ist für uns der klassische Fall einer Warnstreik-Mobilisierung.» Die Kundgebungen halte man im Industriegebiet der Stadt ab, wo die Werke nah aneinanderliegen. Die Auflage der Behörden: Es dürfen nicht mehr als 1000 Arbeiterinnen und Arbeiter teilnehmen. Entsprechend habe man viele Interessierte heimschicken müssen – oder auf einen der nächsten Streiktage vertröstet. Gewerkschafter Günther sagt: «Bei den Leuten gibt es ein grosses Bedürfnis, wieder auf die Strasse zu gehen. Einige brennen richtig drauf!» Eins sei aber klar gewesen: Ohne Maske geht nichts, schliesslich sei der Gesundheitsschutz oberstes Gebot.

DER AUTOCORSO

Es ist ein trister Donnerstag – grauer Himmel, kühler Wind – als sich die bunte Autokolonne am Tor des Daimler-Werks in Berlin Neukölln vorbeischiebt. An jedem Vehikel zu finden: eine rote Fahne der IG Metall, manchmal auch zwei, bisweilen mehr. 220 Kolleginnen und Kollegen haben sich mit ihren Fahrzeugen beteiligt, gibt die Gewerkschaft später Auskunft. Und kann stolz vermelden: Es ist der längste Autocorso, den die IG Metall je in Berlin organisiert hat. Und nur einen Tag später, am Freitag, dem 5. März, lassen die Beschäftigten ein weiteres Mal die Motoren röhren: Dieses Mal cruisen die Metallarbeiterinnen und -arbeiter zum Unternehmerverband.

DAS AUTOKINO-FORMAT

Wo sind da nur die Menschen? Bei den Warnstreiks in Nordrhein-Westfalen (NRW) fehlen auf den ersten Blick die Teilnehmenden. Dafür anwesend: eine schier unüberschaubare Zahl von Autos. Kein Wunder, schliesslich veranstaltet die Gewerkschaft die Proteste hier als Autokino. Auf einem grossen Truck mit Bühne und ausfahrbaren LED-Wänden stehen und sprechen Gewerkschafter und Kolleginnen, in den Autos können die Streikenden per Radio alles mithören. Aber fehlt da nicht der Kontakt zum ­Publikum, das Johlen, Pfeifen, Klatschen? Mike Schürg von der IG Metall NRW sagt: «Wir waren zuerst auch skeptisch. Aber die Kolleginnen und Kollegen geben laufend Rückmeldung, zum Beispiel per Hupe oder Lichthupe.» Manche sind gar so eifrig dabei, dass am Ende der Veranstaltung die Autobatterie leer ist. Aber kein Problem: Die Metallergewerkschaft weiss auch da zu helfen.

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