Serge Gaillard, oberster Kassenwart der Schweiz, geht und zieht Bilanz:

«Wir können gelassen mehr Schulden machen»

Ralph Hug

Pandemie-Kosten, Sparpakete und Geldpolitik: Acht Jahre lang steuerte der ehemalige SGB-Ökonom Serge Gaillard (65) die Eidgenössische Finanzverwaltung. Als letzte Amtshandlung vollbringt er eine kleine Revolution.

SERGE GAILLARD: Der ehemalige Trotzkist hat fast ein Jahrzehnt lang die Finanzen der Eidgenossenschaft verwaltet. (Foto: Keystone)

work: Serge Gaillard, wann hat die Schweiz die Pandemie überwunden?
Serge Gaillard: Schwierige Frage. Das Virus wird unter uns bleiben. Die Frage ist, wie rasch ein genügend grosser Teil der Bevölkerung geimpft werden kann.

Werden wirklich alle, die dies ­wollen, bis Ende Juni zwei Mal geimpft sein?
Das hängt stark von der Verfügbarkeit der Impfstoffe ab. Ich glaube aber, dass die anfänglichen Lieferschwierigkeiten relativ rasch überwunden werden. Vertraglich sind wir ja recht gut abgesichert. Die Entwicklung des Impfstoffs ging auch viel rascher als gedacht.

Was kostet uns die Pandemie?
Man kann davon ausgehen, dass wir letztes Jahr mehr als 30 Milliarden Franken an Einkommen verloren haben. Davon hat der Bund mit seinen rund 15 Milliarden fast die Hälfte abgedeckt, dieses Jahr dürfte ein ähnlicher Betrag dazukommen. Noch nie hat der Bund in einer Krise so rasch und beherzt versucht, die Einkommen der Bevölkerung abzusichern.

Die Pandemie wird uns gut 60 Milliarden Franken kosten.

Kurzarbeit, Erwerbsersatz und Härtefallregelung haben also eine soziale Katastrophe verhindert?
Der Bund hat sehr früh die Kurzarbeit auf 18 Monate verlängert. Dies gab den Unternehmen Planungssicherheit, damit sie nicht Leute entlassen müssen. Gerade im internationalen Reiseverkehr wie bei der Swiss war das sehr wichtig. Möglicherweise stellt sich dort schon bald die Frage einer Verlängerung auf 24 Monate. Neu war der Erwerbsersatz für Selbständigerwerbende. Ab Dezember wurde die Kurzarbeit für tiefe Einkommen von 80 auf 100 Prozent erhöht. Der Bund übernahm zudem 11 Milliarden zur Entlastung der Arbeitslosenversicherung, damit diese nicht auch noch eine Baustelle wird wie die AHV oder das BVG.

In vielen Fällen konnten wir auf bewährte Strukturen zurückgreifen wie die Arbeitslosen- und die Ausgleichskassen sowie das Bürgschaftswesen bei den Krediten an die Unternehmungen. Langsamer war der Weg für die Entschädigung von Unternehmen mit Härtefallhilfe und Einzelfallprüfung durch die Kantone.

War die Abtretung von Kompetenzen in der Covid-Bekämpfung an die Kantone nicht ein Fehler? Viele Leute verstehen den ganzen Wirrwarr nicht.
Bei der Härtefallregelung bedaure ich schon, dass es keine nationale Lösung gibt. Wir haben das zum Jahreswechsel geprüft, aber wieder verworfen, weil wir keine parallelen Entschädigungssysteme wollten und einige Kantone schon sehr weit waren. Man muss sehen, dass das Parlament diese Regelung ursprünglich für «besonders betroffene Unternehmungen» mit Einzelfallprüfung geschaffen hatte. Ende Jahr wurde sie aber zu einem System von Beiträgen an die ungedeckten Fixkosten von Betrieben in behördlich geschlossenen Branchen ausgebaut. Die Kantone mussten deshalb ihre Systeme zu Beginn des Jahres neu gestalten.

Warum profitieren in der Coronakrise die Reichen und die Super­reichen? Und warum müssen ­andere mit 80 Prozent ihres kargen Lohnes über die Runden kommen?
Die Pandemie trifft Haushalte mit tiefen Einkommen besonders stark. Für diese ist eine funktionierende Kurz­arbeitsentschädigung wichtig. Die ­Arbeitslosigkeit wäre ohne sie viel ­höher. Bei den hohen Einkommen müssen wir differenzieren. Die Einkommen aus Kapital haben letztes Jahr mit Sicherheit abgenommen. Zugenommen haben hingegen die Vermögenswerte von Aktien, Obligationen und Immobilien. Das ist auf die tiefen Zinsen zurückzuführen. Es handelt sich lediglich um Buchgewinne und nicht um höhere Einkommen. Wenn die Zinsen steigen, löst sich das schnell wieder in Luft auf.

Sie bewerten die Tiefzinspolitik insgesamt positiv?
Klar! Sie stützt die Wirtschaft und die Beschäftigung. In der Schweiz ist sie zudem nötig, um die Überbewertung des Frankens zu bekämpfen. Schliesslich können auch die Staaten ihre ­Ausgaben leichter finanzieren. Die höheren Vermögenswerte sind ein Nebeneffekt der tiefen Zinsen.

100 Milliarden sind die Reserven der SNB, sie sind tatsächlich üppig.

Die Kantone bekommen für die Jahre 2020 bis 2025 gesamthaft von der Nationalbank 24 Milliarden Franken mehr an Ausschüttungen. Parallel dazu will der Bund offenbar die Härtefallgelder von 2,5 auf mindestens 10 Milliarden erhöhen. Warum sind die Kantone nicht schneller und grosszügiger?
Es gibt grosse Unterschiede unter den Kantonen. Einige sind vorangegangen und schufen selbständige Systeme für Härtefälle. Andere warteten ab. Der Kantonsanteil an den Gesamtkosten der 2,5 Milliarden Härtefallgelder liegt bei etwas mehr als 22 Prozent. Vermutlich läuft es bei einer Erhöhung darauf hinaus, dass die Kantone wieder nur 20 Prozent zahlen.

Ist die Schuldenbremse in der ­aktuellen Krise ein Hindernis, oder muss sie angepasst werden?
Dank der Schuldenbremse können wir relativ gelassen höhere Schulden zulassen. Wir haben in den letzten 15 Jahren die Schulden reduziert. Führen wir die Schuldenbremse nach der Krise unverändert weiter, wissen wir, dass die Schulden wieder langsam abnehmen werden. Dies gibt uns jetzt Spielraum. Die Verfassung erlaubt uns in ausserordentlichen Zeiten ausserordentliche Fehlbeträge. Was wir ändern müssen, ist das Finanzhaushaltsgesetz. Dort wurden 2010 schärfere Bestimmungen eingefügt, die das Parlament wohl anpassen wird.

Ist es richtig, wenn jetzt die Kantone auf die Sparbremse treten?
Die erhöhte Gewinnausschüttung der SNB sollte die Haushalte der Kantone so stabilisieren helfen, dass sich Sparpakete vermeiden lassen. Auch beim Bund sehen die Finanzpläne recht gut aus, wenn wir von der Corona-Schuld absehen. Gründe sind neben den zusätzlichen SNB-Geldern auch der Verzicht auf die Reform der Ehepaarbesteuerung (jährlich eine Milliarde) und die Tatsache, dass Zölle nicht abgeschafft wurden (eine halbe Mil­liarde).

Sie haben die neue Vereinbarung des Bundes mit der Nationalbank mitgestaltet. Was halten Sie eigentlich von einer SNB, die ein Polster von 100 Milliarden hat, aber nur gerade 6 Milliarden pro Jahr herausrücken will? Das ist doch lächerlich wenig.
100 Milliarden sind die Reserven der SNB, und sie sind tatsächlich üppig. Sie dienen aber nicht nur der Verstetigung der Gewinnausschüttung, sondern auch als Wertschwankungsreserve. Ein Einbruch der Aktienkurse um 20 Prozent würde die Reserve um 40 Milliarden verringern. Das Gewinnpotential der Nationalbank wird in den nächsten Jahren vorsichtig geschätzt etwa 5 bis 10 Milliarden Franken betragen. Der Betrag ist aber sehr abhängig von der Wechselkursentwicklung. Daher sind die 6 Milliarden, die jetzt pro Jahr an Bund und Kantone ausgeschüttet werden, meiner Ansicht nach nicht gefährdet und sind eine gute Zahl.

Ich bedaure, dass es bei der Härtefall­regelung keine nationale Lösung gibt.

Die Nationalbank hat durch Gelddrucken ein riesiges Vermögen angehäuft. Warum legen wir dieses Geld nicht in einen Staatsfonds, etwa um die AHV-Leistungen zu garantieren und die Kranken­kassenprämien auf 10 Prozent zu stabilisieren?
Ob das Geld von der Nationalbank oder von einem Fonds verwaltet wird, spielt für die Rendite keine Rolle. Die Anlagen dienen aber der Geldpolitik. Die Nationalbank muss jederzeit über sie verfügen können. Das schränkt die Anlagemöglichkeiten ein. Über die Verwendung des Gewinns entscheidet die Politik. So wird das Parlament dieses Jahr beschliessen, wofür die 670 Mil­lionen verwendet werden, die jetzt der Bund pro Jahr mehr von der SNB erhält.

Könnte das Geld auch für die AHV verwendet werden?
Das Parlament könnte für die AHV eine Zweckbindung machen. Dann müsste die Mehrwertsteuer etwas weniger erhöht werden. Dafür stünde das Geld nicht für andere Aufgaben des Bundes zur Verfügung. Immerhin wurde der Bundesanteil an die AHV mit der Steuervorlage schon deutlich erhöht.

Sie haben letztes Jahr über das Rettungspaket für die Swiss von 1,5 Milliarden Franken verhandelt. Fühlen Sie sich nicht «bschisse», wenn die Swiss jetzt Jobs abbaut und erst noch den Piloten den GAV kündigt?
Die Swiss ist verpflichtet, sozialpartnerschaftliche Lösungen zu suchen. Und die Verhandlungen über den Piloten-GAV sind auch noch nicht abgeschlossen. Aber sie finden in einer ganz schwierigen Lage statt. Die Zahl der Flugbewegungen ist auf einen Zehntel gesunken, und niemand rechnet damit, dass das alte Niveau der Flüge wieder vor Ende 2024 erreicht wird. Immerhin konnten wir dank dem Hilfskredit und der Ausweitung der Kurzarbeit der Airline helfen, die schwierigen Zeiten zu überbrücken.

Vor zwei Jahren haben Sie die Idee einer «Gesundheits­kostenbremse» bekannt gemacht. Für das Gesundheitswesen soll es ein Gesamt­budget geben, das jährlich ausgehandelt wird. Ist diese Idee schon wieder versandet?
Nein, im Moment ist eine entsprechende Vorlage in der Vernehmlassung. Selbstverständlich sind die Anbieter im Gesundheitswesen nicht erbaut, wenn sie unter Budgetrestriktionen arbeiten müssten. Wir müssen aber im Gesundheitswesen zwei Probleme ­lösen: Familien dürfen nicht zu stark belastet werden. Und die Kosten können sich nicht alle 18 Jahre verdoppeln. Da kommen wir um eine politische Entscheidung nicht herum, welche Mittel wir künftig für das Gesundheitswesen aufwenden wollen.

Sie sind jetzt pensioniert, ein halbes Jahr später als geplant. Wird man in Zukunft noch von Ihnen hören?
Ich hatte letztes Jahr keine Zeit, mich auf die Zeit nach der Finanzverwaltung vorzubereiten. Ich werde mir jetzt in Ruhe überlegen, wie es weitergeht.

Serge Gaillard: Ein Linker hoch oben

Serge Gaillard (65) ist Ökonom. Bekannt wurde der ehemalige Trotzkist als Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds seit 1993. Im Jahr 2007 wechselte er ins Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Er wurde dort Chef der Direktion für Arbeit und leitete zahlreiche tripartite Kommissionen. 2012 wählte ihn der Bundesrat zum Chef der Eidgenössischen Finanzverwaltung, die zum Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) gehört. Damals war Eveline Widmer-Schlumpf EFD-Chefin. Danach diente Gaillard Ueli Maurer (rechts im Bild). Gaillard wohnt in Zürich.

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