Wegen Überlastung, Tieflöhnen und der laschen Corona-Politik:

Schwedens Spitälern laufen die Mitarbeitenden davon

Jonas Komposch

­Schon im Mai warnte die ­schwedische Pflegenden-­Gewerkschaft vor einem ­Personalnotstand. In Stockholm haben seither 3600 Spital-Mitarbeitende gekündigt.

SPITAL-EXODUS: Wegen tiefer Löhne, Erschöpfung oder Krankheit haben in Schweden im Corona-Jahr Tausende Pflegende gekündigt. (Foto: Getty)

Nicht nur die Schweiz hechelt der ­Corona-Entwicklung hinterher. Auch Schweden geht bei der Pandemie-Bekämpfung auf Sonderwegen: Statt auf Verbote setzte das bevölkerungsreichste Land Skandinaviens lange auf Freiwilligkeit. Erst seit Ende November sind einige milde Einschränkungen zwingend. Die Folge: Heute haben 3 Prozent der schwedischen Bevölkerung Corona, während in den Nachbarländern Norwegen und Finnland nur 0,7 bzw. 0,6 Prozent der Menschen infiziert sind. Noch eklatanter ist der Unterschied bei der Sterblichkeit: Sie ist in Schweden 10 Mal höher als bei den beiden Nachbarn. Und weil die Fallzahlen seit September steil und ungebrochen steigen, droht dem Gesundheitswesen jetzt der Kollaps.

Die Situation sei «extrem angespannt» warnte Irene Svenonius, die Bürgermeisterin der Region Stockholm, und forderte sofortige medi­zinische Unterstützung durch die ­Armee. Neues Gesundheitspersonal lasse sich nämlich kaum mehr rekrutieren. Im Gegenteil. Seit dem Corona-Ausbruch hängen Monat für Monat 500 Spital-Mitarbeitende ihren Job an den Nagel. Das hat eine Erhebung des Fernsehsenders TV 4 ergeben. Und der Staatssender SVT hat berechnet, dass allein in Stockholm 3600 Pflegende seit März ihren Beruf aufgegeben haben. Dies seien 900 mehr als im Vorjahr.

«Eine Kündigung ist die einzige Möglichkeit, sich zu erholen.»

UNTERBEZAHLT UND KRANK

Nicht überrascht darüber ist Sineva Riberio, die Präsidentin der Pflegenden-Gewerkschaft Vårdförbundet. Zur Zeitung «Aftonbladet» sagte sie: «Schon im August sagten mir Mitglieder, sie würden kündigen, weil dies die einzige Möglichkeit sei, Freizeit zu haben und sich zu erholen.» Heute sei die Lage derart eskaliert, dass unter den 100’000 Gewerkschaftsmitgliedern viele unter Krankheiten, Erschöpfungssymptomen und Corona-Ansteckungen litten. Dieser Verschleiss der Mitarbeitenden sei todgefährlich. Riberio: «In einem derart ermüdenden Arbeitsumfeld steigt die Wahrscheinlichkeit, Fehler zu machen. Und diese Fehler können dazu führen, dass Patienten sterben.»

Ein weiterer Grund für den Spital-Exodus ist das Lohnniveau. Pflegehilfskräfte verdienen gemäss dem statistischen Zentralamt bloss 29 000 Kronen brutto, was 3065 Franken entspricht und gut 500 Franken unter dem Landes-Durchschnittslohn in Schweden liegt. Und bisher machte die Regierung kaum Anstalten, die Pflegelöhne zu heben. Immerhin erkannte sie mit der Kurs­änderung Ende November, dass ihr Sonderweg wohl ein Irrweg war. Eine Maskenempfehlung jedoch mochte die Regierung bis heute nicht aussprechen. Weil Staatsepidemiologe Anders Tegnell an deren Wirksamkeit zweifelt.

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