Riegers Europa

Mindestlöhne in Europa: Neue Töne aus Brüssel

Andreas Rieger

Andreas Rieger

Fast zehn Prozent der Arbeitenden in der Europäischen Union leben in Armut: «Das müssen wir ändern!» Nicht ein Gewerkschafter sagt das, sondern der EU-Minister für Arbeit und Soziales Nicolas Schmit. «Eine positive Dynamik» sei bei den Löhnen angesagt, sonst lohne sich die Arbeit nicht. Das sind neue Töne aus Brüssel. Jahrzehntelang forderte die EU-Kommission «Lohnmässigung» und eine Flexibilisierung der Kollektivverträge.

Konkret legt die EU-Kommission jetzt eine «Richtlinie über angemessene Mindestlöhne» vor. Diese betrifft zum einen die gesetzlichen Mindestlöhne, die in 21 von 27 EU-Ländern bestehen. Ein europäischer Mindestlohn kann keinen einheitlichen Eurobetrag vorschreiben, dazu sind die Lohn­niveaus viel zu unterschiedlich. Möglich ist jedoch ein Minimum, bezogen auf das jeweilige Lohngefüge in einem Land. Als – leider unverbindlichen – Zielwert nennt der Entwurf der EU-Richtlinie 60 Prozent des Lohnmittelwertes (die eine Hälfte der Löhne ist dar­unter, die andere darüber).

EU predigt nicht mehr «Lohn­mässigung».

GROSSER LOHNSPRUNG. Genau das fordern auch die europäischen Gewerkschaften. Mit diesem 60-Prozent-Minimum gäbe es in einigen Ländern einen richtigen Lohnsprung. Zum Beispiel in Spanien, aber auch in Deutschland; dort liegt der Mindestlohn heute unter 50 Prozent dieses Mittelwertes. In der ganzen EU könnten über 20 Millionen Arbeitende von einer solchen Lohnerhöhung profitieren.

BLECHSTANDARD. Gesetzliche Mindestlöhne sind im EU-Entwurf aber nicht alles. Darüber hinaus braucht es differenziertere Mindestlöhne, die in Gesamtverträgen vereinbart werden. Kollektivverträge seien «der Goldstandard», sagt derselbe EU-Minister Schmit. In ihrer neuen und brisanten Studie sagt das auch die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) (siehe Seite 13). Bloss: In der Hälfte der EU-Länder dominiert der Blechstandard, denn es gibt viel zu wenig Kollektivverträge. In ­Ostländern wie etwa Polen, Ungarn und Rumänien sind nur gerade rund 20 Prozent der Arbeitnehmenden einem Kollektivvertrag unterstellt. Aber auch in Deutschland sind es nur 54 Prozent, ähnlich der Schweiz. Die geplante EU-Richtlinie will nun vorschreiben, dass Länder mit einer Abdeckung von weniger als 70 Prozent einen «Aktionsplan» zur Förderung von Kollektivverträgen beschliessen müssen. Das wäre auch für die Schweiz Gold wert.

Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschafts­bewegung aktiv.

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