Arbeitersohn Joe Biden und die Gewerkschaften:

Ein Büezerfreund als neuer US-Präsident?

Lotta Suter

US-Gewerkschaften erhoffen sich viel vom ­neugewählten Präsidenten. ­Vermutlich zu viel.

OHNE GERECHTIGKEIT KEINEN FRIEDEN: Arbeitersohn Joe Biden nimmt an einem Protestmarsch der «Culinary Workers Union» in Las Vegas teil, einer Gewerkschaft für Mitarbeitende im Restaurant- und Gastgewerbe, Februar 2020. (Foto: Getty)

«Joe Biden ist unser Mann!» In diesem Punkt sind sich alle grossen US-Gewerkschaftsverbände einig. Sie haben den Wahlkampf des Arbeitersohns aus Delaware tatkräftig unterstützt. Schliesslich vertrat der 78jährige Politiker ihre Interessen seit Jahrzehnten auf nationaler Ebene. Nun hoffen sie, dass Biden der büezerfreundlichste Präsident der USA wird.

Doch der zukünftige Regierungschef stösst bereits mit der Ankündigung von Arbeitsmarktregulierungen auf harten Widerstand. Er ­bedrohe die individuelle Freiheit der Arbeitskräfte, behaupten seine republikanischen Gegner. Der «Extremist» wolle die gesamte Wirtschaft dem Diktat der Gewerkschaften unter­werfen. Schön wär’s. Was die neu­gewählte Regierung anstrebt, sind pragmatische Schritte zur Demokratisierung der Arbeitswelt: Eine stärkere gewerkschaftliche Organisierung. Griffige Kollektivverträge. Eine zeitgemässe Regulierung der wildwachsenden Plattform-Economy (Uber usw.). Die Verdoppelung des nationalen Mindestlohnes von 7.25 Dollar auf 15 Dollar.

Biden/Harris wollen eine Verdoppelung des nationalen Mindestlohnes von 7.25 auf 15 Dollar.

WEG MIT DEN TRUMP-LOBBYISTEN

Als erstes wird Joe Biden das Arbeitsministerium neu besetzen. Weg mit all den gewerkschaftsfeindlichen Juristen, Unternehmern und Lobbyisten der Regierung Trump! Für den Rest der Veränderungen braucht die neue demokratische Regierung allerdings starke Verbündete. Und das ist ein Problem.

Die Gewerkschaften selber sind nicht sehr stark. In den USA gibt es heute etwa 15 Millionen Mitglieder. Das sind nur zehn Prozent aller Arbeitskräfte. Vor vierzig Jahren waren es prozentual noch doppelt so viele. Joe Biden will diesen Abwärtstrend bremsen oder umkehren. Er versprach in seiner Wahlplattform zum Beispiel, auch wer als Plattform-«Unternehmer» im Auftragsverhältnis arbeite, wie etwa die Uber-Fahrer und -Fahrerinnen, solle sich in Zukunft organisieren und Kollektivverträge abschliessen können.

Wachsen können die US-Gewerkschaften im 21. Jahrhundert wohl nur als Teil einer breiteren Bewegung für soziale Gerechtigkeit. Wie das beim Bildungsstreik der Lehrkräfte geschah. Oder beim Kampf für einen existenzsichernden Mindestlohn. Mit dem grössten Bürgerprotest der US-Geschichte, Black Lives Matter, solidarisierte sich die überdurchschnittlich weisse Gewerkschaftsführung allerdings nur sehr zögerlich. Dabei ist der Kampf für menschenwürdige Lebensbedingungen in den USA nicht zu haben ohne Kampf gegen den Rassismus.

Als erstes wird Biden das Arbeitsministerium neu besetzen.

WENIG SPIELRAUM

Genügend Bündnispartner brauchte Joe Biden auch im Senat. Denn der amerikanische «Ständerat» kann die Regierungsgeschäfte forsch vorantreiben – oder aber gänzlich blockieren. Wenn die demokratische Partei beim zweiten Wahlgang im US-Bundesstaat Georgia Anfang Jahr keine Mehrheit erringen kann, wird der neugewählte Präsident wenig Spielraum für Reformen haben. Denn die gewerkschaftsfeindliche republikanische Seite verweigert jeden Kompromiss.

Das Wahlresultat ist das dritte und vielleicht grösste Hindernis für ehrgeizige linke Projekte und Reformen. Joe Biden hat zwar deutlich gewonnen. Aber es war kein Erdrutschsieg. Der US-Kongress und auch die Bevölkerung sind weiterhin in fast gleich grosse, unversöhnliche Lager gespalten. Die rechte Hälfte hat sich zusammen mit Donald Trump in einer Scheinwelt verschanzt. Corona-Pandemie, Wirtschaftskrise, Rassismus und Klimaerwärmung gibt es nicht in diesem phantastischen Amerika. Nur die linkere Hälfte der US-Gesellschaft ist noch bereit, sich der komplizierten Wirklichkeit zu stellen. Wenigstens gehören Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris bald dazu.


Trump ist weg:  Der Trumpismus bleibt

(Foto: ZVG)

Das Irrste an der jüngsten US-Wahl war ihre Normalität. Die US-Amerikanerinnen und -Amerikaner wählten massenhaft. Aber eben wie gewohnt. Trotz Trumps vier Jahren Missregierung. Trotz der vermasselten Coronakrise mit bereits einer Viertelmillion Toten. Die Städte stimmten mehrheitlich demokratisch. Das Land republikanisch. Die Vororte, die jünger und multikultureller geworden sind, rutschten etwas nach links.

REICHE FÜR TRUMP. Donald Trump punktete bei den Besserverdienenden (über 100’000 Dollar Jahreslohn). Joe Biden bei den besser Gebildeten. Und bei den mittleren Einkommen (50’000 bis 100’000 Dollar Jahreseinkommen). Wie schon vor vier Jahren war Donald Trump auch 2020 nicht der Wunschkandidat des kleinen, sondern des weissen Mannes. Und leider auch der weissen Frau. Doch im Unterschied zu 2016 verlor er die Wahl trotzdem. Joe Biden erhielt mindestens fünf Millionen mehr Stimmen. Er siegte so überzeugend wie letztmals Franklin Roosevelt 1932 während der Weltwirtschaftskrise.

Allerdings wählten rund 72 Millionen Stimmende einen notorischen Lügner und Rassisten. Und eine republikanische Partei, die jeden Unsinn ihres Führers mitmacht. Sogar das traurige Nachwahlspektakel des schlechten Verlierers, der nun die Demokratie selbst in Frage stellt. Trump ist weg, aber nicht der Trumpismus, der in dieser Wahl grossen Zuspruch gewonnen hat. Der Rassismus bleibt fast mehrheitsfähig. Ebenso der Fremdenhass. Die Verachtung für kritische Medien und politische Gegner. Die Verleugnung der Klimakrise. Der Egoismus, der die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.

SCHÄRFERE POSITIONIERUNG. Joe Biden hat gleich nach seinem Wahlsieg versichert, er wolle der Präsident für alle sein. Etwas Ähnliches sagten mit Ausnahme von Donald Trump alle seine Vorgänger.

Ob die Versöhnung auch diesmal gelingt, ist fraglich. Die Polarisierung zwischen dem vorwärtsschauenden und dem rückwärtsgewandten Amerika ist sehr viel schärfer geworden.

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