Deutschland: Streiks im öffentlichen Dienst

Gestern applaudiert – heute abserviert

Johannes Supe

Pflegerinnen, Verwaltungsangestellte und Busfahrer haben die Nase voll. Die ­Heldinnen und Helden der Coronakrise fordern jetzt eine Anerkennung ihrer ­Arbeit. Doch der Staat will sie billig abspeisen.

STREIK TROTZ – ODER GERADE WEGEN – CORONA: Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren in ganz Deutschland. (Foto: Picture Alliance)

Heike Rehkopf (56) ist zufrieden, denn heute arbeitet sie nicht. Es ist kurz vor 9 Uhr, und die Intensivpflegerin steht vor ihrem Krankenhaus. Drinnen fehlen heute gut 100 Pflegefachfrauen, entsprechend mussten Betten ­geschlossen und Operationen verschoben werden. Niemand wird gefährdet, doch das Spital betreut an diesem Tag weniger Menschen und generiert entsprechend geringere Einnahmen. Denn Heike Rehkopf und ihre Kolleginnen streiken. Rehkopf sagt: «Das haben sie uns sehr, sehr übel genommen.» Noch am Vortag riefen die Chefärztinnen und Chefärzte die Belegschaft zusammen und verurteilten den Streik. Genützt habe es nichts, sagt Reh­kopf: «Der Streik klappt sehr gut.» Und so wird auch das Herzzentrum der SHG-Klinik in der westdeutschen Stadt Völklingen vom Arbeitskampf im öffentlichen Dienst erfasst. Es ist der 13. Oktober, ein Dienstag. Es ist ausserdem erst ein Anfang: Schon am nächsten Tag soll die Aktion ausgeweitet werden.

Eine Streikwelle brandet in Deutschland auf. Seit mehreren Wochen finden mal ein-, mal zweitägige Arbeitsniederlegungen statt, organisiert von der deutschen Dienst­leistungsgewerkschaft Verdi. Dabei geht es um viel: Der Vertrag der rund 2,3 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen steht auf dem Spiel. Und damit die Arbeitsbedingungen von Pflegerinnen, Kollegen in der Müllabfuhr, von Verwaltungsangestellten und Beschäftigten in den kommunalen Kraftwerken. Für sie alle will Verdi bessere Löhne herausholen.

«Es muss ­endlich was beim Lohn passieren!»

STAAT WILL NULLRUNDE

Gut 550 Kilometer Landweg trennen Ernst-Wilhelm Mahrholz (61) von Intensivpflegerin Rehkopf. Er arbeitet in Halberstadt in Ostdeutschland für die Verwaltung des dortigen Landkreises; ist hier in der Personalvertretung aktiv. Rehkopf und Mahrholz kennen sich nicht, und doch treibt sie dieselbe Sache an: Mit seinen Kollegen will auch Mahrholz streiken. 33 Jahre arbeitet er nun bereits im öffentlichen Dienst. In dieser Zeit hat er mit ansehen müssen, wie dieser gegenüber der Privatwirtschaft immer weiter zurückfällt, bei den Löhnen und den Arbeitszeiten. Mahrholz: «Wir haben mittlerweile riesige Pro­bleme, junge Leute für unsere Stellen zu finden.» Um gegenzusteuern «müsse endlich ­etwas beim Lohn passieren». Auch deshalb sei der Streik notwendig.

Wäre es nach Verdi gegangen, hätte es die Streiks nicht gegeben. Die Gewerkschaft hatte der Gegenseite angeboten, die Verhandlungen auf das kommende Jahr zu verschieben. So wollte man es vermeiden, ausgerechnet in der Coronakrise einen Arbeitskampf führen zu müssen. Für die Beschäftigten hätte es eine Einmalzahlung für das Jahr 2020 geben sollen. Doch Bund und Kommunen lehnten das ab. In den zwei Verhandlungsrunden, die dann Anfang und Ende September folgten, boten sie den Beschäftigten nichts an. So drängt sich der Verdacht auf, dass der Staat die Krise nutzen wollte, um Nullrunden durchzudrücken.

WURSTKORB ALS DANK

Ein Korb mit Wurst- und vegetarischem Aufstrich: so sah der Dank des Staats für die Arbeit von Heike Rehkopf und ihren Kolleginnen aus. Genauer: Es waren vier Körbe für die Dutzenden Pflegerinnen. Rehkopf sagt: «Während ­Corona wurden Dankesreden geschwungen, aber danach hat sich nicht viel geändert für uns.» Dabei war ein Bereich des Herzzentrums kurzerhand zu einer Coronastation umgewandelt worden, das Spital hatte sich sogar bereit erklärt, französische Patientinnen und Patienten bei sich aufzunehmen. Mehr Stress und längere Arbeit über den Tag hinweg waren die Folgen für die Pflegenden. Doch nur einem Teil der Belegschaft war für die Dauer von zwei Monaten der Lohn erhöht worden. Nun will die Klinik nichts mehr wissen von einer Aufwertung der Pflege. Stattdessen hält die Geschäftsleitung in einem Brief an Verdi fest: «Gleichzeitig untersagen wir jegliche Streikpropaganda (…), insbesondere das Abhalten von Streikversammlungen und das Aufhängen von Plakaten.» Ein Bonus lasse sich «tariflich nicht darstellen», war die bürokratische Antwort, die Ernst-Wilhelm Mahrholz von den Chefs der Verwaltung bekam. Da hatte der Personalvertreter nachgefragt, ob man den Beschäftigten etwas zukommen lassen könnte. Schliesslich hatte die Coronazeit für viele Verwaltungsangestellte erhebliche Mehrarbeit bedeutet: Man half etwa den Kolleginnen und Kollegen aus der Gesundheitsabteilung dabei, die Corona-Hotline einzurichten oder Verläufe von Infektionsketten zurückzuverfolgen. Gleichzeitig musste mit einer Rumpfmannschaft der reguläre Dienst verrichtet werden. Mahrholz: «Durch ihren Einsatz haben die Mitarbeitenden dafür gesorgt, dass die öffentliche Daseinsvorsorge weiter funktioniert hat.» Nur eine wirkliche Würdigung erhielten sie nicht. Weil «tariflich nicht darzustellen» übersetzt bedeutet: Es gibt nichts, weil im Tarifvertrag nicht steht, dass es etwas geben muss.

Noch nicht! Während 21 Tagen haben insgesamt 175’000 Beschäftigte an Streikaktionen teilgenommen. Und damit mächtig Druck gemacht. Das veranlassten Bund und Kommunen dazu, am Freitag, 16. Oktober, erstmals ein Angebot für Lohnerhöhungen vorzulegen. Verhandelt werden soll darüber noch in diesem Monat.

UPDATE: Verdi hat es geschafft. Nach viertägiger Verhandlung wurde am Sonntag, 25. Oktober, ein Ergebnis für die Beschäftigten des öffentlichen Diensts erreicht. Demnach erhalten sämtliche Angestellte eine einmalige Corona-Prämie von bis zu 600 Euro. Zudem werden sowohl im kommenden Jahr wie auch 2022 die Löhne um 1,4 Prozent beziehungsweise 1,8 Prozent steigen. Dazu kommen gesonderte Zulagen für die Pflegerinnen und Pfleger: Ab März 2021 wird eine Pflegezulage von 70 Euro gezahlt, die ein Jahr später auf 120 Euro erhöht wird. Die Zulage in der Intensivmedizin wird mehr als verdoppelt auf 100 Euro monatlich. Und wer in wechselnden Schichten arbeitet, erhält künftig 155 statt bisher 105 Euro. Es sei ein «respektabler Abschluss», erklärt Verdi-Chef Frank Werneke in einer Mitteilung der Gewerkschaft.

Unia: Solidarität mit den Streikenden

Auch die Unia hat sich zum Arbeitskampf in Deutschland geäussert und folgende Erklärung an Verdi gesandt:

«Wie bei euch in Deutschland hat auch bei uns in der Schweiz die Covid-Krise viele Arbeitnehmende hart getroffen. Doch ohne den unermüdlichen Einsatz der Beschäftigten in Pflege und Betreuung, ohne die oft unsichtbaren Anstrengungen der Angestellten in der Verwaltung, ohne eine gesicherte Energieproduktion und eine pünktliche Müllabfuhr – kurz: ohne die viele Arbeit, die unsere Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst und in den essentiellen Berufen in der Privatwirtschaft leisteten, wären die Folgen der Krise viel drastischer ausgefallen. Nun führt ihr an der Seite genau dieser Beschäftigten des öffentlichen Diensts einen Arbeitskampf. In dieser Auseinandersetzung stehen wir fest an eurer Seite. Die Pflege, die essentiellen Berufe in der Privatwirtschaft wie auch der gesamte öffentliche Dienst verdienen eine Aufwertung. Gemeinsam setzen wir sie durch!»


Weitere Artikel zum Thema:

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.