Coronavirus hat die Schweiz wieder heftig im Griff

Erfolge verspielt, Entwicklung verschlafen

Clemens Studer

Die zweite Coronawelle rollt. Sie trifft die Schweiz hart. Weil rechte Parteien und die Kantone die Erfolge des Frühsommers verspielt haben.

APPLAUS: Die Truppe des Jodler-Musicals «Uf immer und ewig» jodelte das Virus kräftig in den Saal. (Foto: Jodel Musical Freunde)

Am 18. September schrieb work: «Der Bund muss wieder übernehmen!». Am 18. Oktober war’s dann so weit. Zumindest ein bisschen. Der Bundesrat musste handeln, weil er sich im Frühsommer geirrt hatte. Geirrt mit der Annahme, die Kantone könnten die Bekämpfung der Corona-Pandemie übernehmen. Diese hatten das auch lautstark behauptet. Unterstützt von rechten Parteien und den Wirtschaftsverbänden. Doch schon bald zeigte sich: Die meisten Kantone können es nicht. Und die ­mehrheitlich rechtsdominierten Deutschschweizer Kantonsregierungen wollten oft auch nicht. Aus ideologischen Gründen – und aus Angst vor Stimmenverlust bei den nächsten Wahlen.

Die Folge: ein Flickenteppich an Massnahmen. Die Corona-Infektionen explodieren. Die ersten Spitäler sind bereits am Anschlag. Das Contact-Tracing ist in vielen Kantonen überfordert und zum Teil faktisch bereits aufgegeben. Die Corona-App, vom SRF-gehypten Lausanner Biologen Marcel Salathé durchgezwängelt, könnte zwar funktionieren – tut’s aber nicht. Statt der anvisierten 3 Millionen Nutzerinnen und Nutzer sind es aktuell gerade mal rund 1,7 Millionen. Jetzt müssen die Pöstlerinnen und Pöstler dafür Werbung ­machen.
Kurzum: Die Erfolge des Frühsommers sind verspielt.

In Schwyz jodelten die Jodler das
Virus von der Bühne …

VERSCHLAFEN UND IGNORANT

Wie viele Kantone die Erfolge der Pandemie-Bekämpfung vernichteten, die der Bundesrat erreicht hatte, zeigen vier Beispiele.

Schwyz: Die Verantwortlichen im Kanton Schwyz zum Beispiel haben wohl gehofft, das Virus sterbe im Talkessel vor Langeweile – oder traue sich aus Furcht vor den hohen SVP-Wähleranteilen nicht in den Kanton. Dar­um lief in Schwyz fast alles so, als wäre Corona nur etwas, das Städter und Westschweizerinnen betreffe. Stubete um Stubete füllten die Beizen und Säle. Und Ende September liessen die Behörden Aufführungen des Jodler-Musicals «Uf immer und ewig» zu – in der Mehrzweckhalle Mythen-Forum in der Kantonshauptstadt Schwyz. Ohne Maskenpflicht. Auf der Bühne standen die Darstellenden Schulter an Schulter. Und jodelten das Virus kräftig in den Saal. Folge: Der Kanton sieht sich «mit einem der europaweit schlimmsten Ausbrüche» konfrontiert. Das erfuhr die Schweiz aber nicht etwa von der Kantonsregierung. Sondern in einem dramatischen Video-Appell der Verantwortlichen des Kantonsspitals, das an seine Grenzen stösst. Und Patientinnen und Patienten in ausserkantonale Spitäler überweisen muss.

Aargau: Während die Nachbarkantone Solothurn und Zürich schon längst die Maskenpflicht in Läden eingeführt hatten, sträubte sich der SVP-Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati wochenlang dagegen. Das war aus seiner Sicht nur konsequent. Schliesslich trat der SVPler auch an einer Corona-Leugner-Veranstaltung auf, an der weder Masken getragen noch die Abstände eingehalten wurden. Und dann waren am 18. Oktober ja auch noch Wahlen. Nach der Wiederwahl – und dem Einschreiten des Bundesrates – verhängte der Aargau dann blitzartig wesentlich schärfere Massnahmen.

Bern: A propos blitzartig: Im Kanton Bern schneggelte SVP-Gesundheitsdirektor Pierre-Alain Schnegg wochenlang vor sich hin. Um dann zuerst die Maskenpflicht in Verkaufsgeschäften doch noch einzuführen. Und kurze Zeit später – als die Zahlen explodierten – auch Grossveranstaltungen wieder auf 1000 Teilnehmende zu beschränken. Die Fussball- und Eishockeyvereine sehen ihr Geschäftsmodell am Ende. Und die nationale Eishockeyliga denkt wegen des Berner Entscheids gar über einen Abbruch der Saison nach. Der Entscheid soll im November fallen.

Zürich: Zürich führte relativ früh eine Maskenpflicht im Handel ein. Und die SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli möchte schon länger weitergehende Massnahmen ergreifen. Im Unterschied zu anderen Kantonen verlaufen hier die politischen Fronten in der Regierung aber anders. Dem Vernehmen nach bremsen im Kanton Zürich nämlich die beiden SP-Regierungsmitglieder effizientere Massnahmen aus. Der regierungsrätlich eingesetzte Zürcher Sonderstab kommt ohne medizinisches und wissenschaftliches Fachpersonal aus (mit Ausnahme der Kantonsärztin ad interim). Die Hälfte der Truppe besteht aus Vertretern von «Sicherheitsdiensten», und der Chef ist der Kantonspolizeichef. Die anderen schauen aufs Geld. Auch so kann eine Exekutive Zeichen setzen.

Im Zürcher Kantonsrat bezeichnete SVP-Kantonsrat Christian Lucek wirksame Massnahmen gegen die Corona-Ausbreitung als «sozialistische Predigt und kommunistische Allmachtsphantasie». Und: «Wer soll das alles bezahlen, schliesslich liegen noch keine Leichenberge herum.» Eine sinnvolle Antwort wäre wohl: die Allgemeinheit. Schliesslich füttert diese auch Lucek seit mindestens 33 Jahren durch. Er ist Berufsmilitär. Doch blödsinnige Corona-Aussagen sind kein Vorrecht von SVP-Politikern. Ein Zürcher FDP-Kantonsrat mit dem sprechenden Namen Marc Bourgeois sagte zu den Quarantäne-Regelungen (die er für Reisende faktisch abschaffen möchte): «Sozialisten schliessen ja gerne Leute im Land ein.»

… in Bern schneggelte Gesundheitsdirektor
Schnegg vor sich hin.

WAS JETZT KOMMT

Die landesweit geltenden Vorschriften des Bundes und die von einigen Kantonen beschlossenen weitergehenden Massnahmen werden frühestens in vierzehn Tagen ihre Wirksamkeit zeigen. Bis dahin werden die Ansteckungszahlen, die ­Spitaleinweisungen und die Todesfälle ­weiter steigen. Im Vergleich mit den umliegenden Ländern sind die Schweizer Massnahmen immer noch sehr zurückhaltend (siehe Spalte links).

Man muss nicht hellsehen können um zu prophezeien: Das wird nicht reichen, uns halbwegs unbeschadet über den Winter zu bringen. Wie steil die Lernkurve bei den Politikerinnen und Politikern ist, wird sich das nächste Mal bereits nächste Woche zeigen. Dann trifft sich das nationale Parlament zu einer Corona-Sondersession. Es geht auch um wirtschaftliche Hilfen für Corona-Betroffene. Noch klemmen die rechten, angeblich «KMU-freundlichen» Parteien.

Stand zu Redaktionsschluss am Dienstag, 20. Oktober 2020

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