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Das berichten Sexarbeiterinnen in der Schweiz: Schlaglicht aufs Rotlicht

Patricia D'Incau

Journalistin Aline Wüst recherchierte zwei Jahre lang im Schweizer Sex­gewerbe. Jetzt ist ihr neues Buch erschienen.

ROSAROTE ZONE: Die Fotografin Yoshiko Kusano hat in Europa und in Japan die Zimmer von Sexarbeiterinnen fotografiert. (Foto: Yoshiko Kusano)

In der Lounge von Annas Puff sitzen drei Männer, gerade mal volljährig. Vis-à-vis von ihnen: vier Frauen in Reizwäsche. Hinter ihnen: drei Frauen in Reizwäsche. An der Bar: drei Frauen in Reizwäsche. Die Männer: schauen auf ihre Smartphones.

Der eine sucht sich irgendwann doch noch eine Frau aus. Der andere will nur etwas trinken. Der dritte kann sich nicht entscheiden. Und macht «Aazelle, Bölle schelle … piff, paff, puff … und du bisch duss.»

UNSICHTBARE ARBEIT

«Piff, paff, puff.» Ausgerechnet hier. Im Puff. Dem jungen Mann entgeht die Ironie, aber Journalistin Aline Wüst nicht. Sie sitzt an diesem Abend ebenfalls in Annas Bordell. So, wie sie es an vielen Abenden in den letzten zwei Jahren getan hat. Auf Recherche für ihr Buch, eine 168 Seiten lange Reportage über Prostitution in der Schweiz.

Wüst will wissen, was in den Schweizer Bordellen vorgeht, im Leben der Sexarbeiterinnen. Und in den Köpfen der Freier, zu denen jeder fünfte Mann in der Schweiz gehört oder schon einmal gehört hat. Sie will durchleuchten, wie das Sexgewerbe funktioniert, und die Frauen sprechen lassen, die sich Roxy, Elena oder Maria nennen. Und von denen die Journalistin schon 2018 in ihrer ersten Puff-Reportage für den «Sonntagsblick» schreibt: «In der Schweiz ist wenig bekannt über Frauen wie Maria. Obwohl hierzulande vieles akribisch erfasst wird. Zum Beispiel die Anzahl von Kühen, auf die Kuh genau. Wie viele Prostituierte es gibt, weiss dagegen keiner.» Obwohl Sexarbeit in der Schweiz schon seit 1942 legal ist. Deshalb besucht Aline Wüst den Strassenstrich in Olten, spricht mit einem Psychiater in Bern, hört Geschichten über getötete Prosti­tuierte in Luzern und schliesst in Zürich Freundschaft mit Sara, einer Sexarbeiterin aus Bulgarien. Einmal fragt Wüst sie, warum sie mit der Sexarbeit begonnen habe. Sara sagt: «Es gab keine Person, die mich gezwungen hat. Es war das Leben, das mich zwang. Mein Zuhälter ist das Leben.»

«ICH BIN AUCH EIN MENSCH»

Sara wollte Fitnesstrainerin werden, Pia­nistin oder Kunstmalerin. Die Mutter war dagegen. «Ich müsse Ärztin oder Anwältin werden», sagte sie. «Nun, heute bin ich eine Schlampe.»

Sara braucht Geld und verkauft Sex, für sich und ihre Familie in Bulgarien. Doch sie möchte aussteigen, Fa­brikarbeiterin werden, «ein langweiliges Leben leben». Ein Leben vielleicht, wie es Anna einmal hatte. Anna, die Bordellbesitzerin, bei der Journalistin Wüst auf ihrer Recherche regelmässig in der Lounge sitzt. Früher führte sie mit ihrem Mann ein eigenes Geschäft. Dann mussten sie Konkurs anmelden, und Anna, damals 47, fand keine Stelle mehr. Irgendwann habe sie sich gedacht: Im Sexgewerbe gibt es immer Arbeit. Sie meldete sich auf eine Anzeige. Nicht als Sexarbeiterin. Auch wenn sie dann doch eine wurde. Als eine der wenigen Schweizerinnen überhaupt (siehe Box).

Mittlerweile vermietet Anna Zimmer, nennt sich selber Puffmutter. Bei ihr zu Hause aber hängt ein Bild, das früher in dem Zimmer hing, in dem sie anschaffte. Das Bild ist eine Erinnerung. Denn: «Wie es sich anfühlt, wehrlos vor einem Freier am Boden zu liegen, das will ich nie vergessen», sagt Anna. Keine Frau mache diese Arbeit gerne. Und doch: Die Sexarbeit habe sie vieles gelehrt. Sie sei stark geworden, darauf sei sie stolz.

Anna sieht es so: «Ja, wir geben. Aber wer gibt, bekommt auch etwas zurück.» Sara sieht es anders: «Ich nehme Geld, ja. Aber ich gebe auch etwas von mir. Jedesmal gebe ich ein Stück von mir. Von meiner Seele – oder von dem, was da halt drin ist. Irgendwann wird es leer sein in mir.» Und doch gibt es Punkte, in denen sich in Wüsts eingängiger Reportage alle Frauen einig sind. Sie wollen Rechte, wie Frauen in anderen Berufen auch. Sie wollen Gesundheit und Sicherheit. Und sie wollen Re­spekt. Und keine Kunden wie der, der Elena anschreit: «Wieso schluckst du mein Sperma nicht? Du bist doch eine Schlampe.» Oder wie all jene, von denen Roxy erzählt, die denken, «nur weil sie bezahlt haben, können sie mit mir machen, was sie wollen». Diese Erniedrigung gehöre zum Schlimmsten. Denn: «Eigentlich bin ich nicht bloss Fleisch. Ich bin auch ein Mensch.»

Aline Wüst: Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz. Echtzeit-Verlag, 168 Seiten, CHF 29.–. Lesungen: 5. Oktober, 20 Uhr in Bern. 12. Oktober, 19.30 Uhr in Chur. 23. Oktober, 20.00 Uhr in Luzern.

Sexarbeit: Ein Milliardengeschäft

Laut Schätzungen sind bis zu 90 Prozent der Sexarbeiterinnen in der Schweiz Migrantinnen. Sie kommen vor allem aus Rumänien, ­Bulgarien und Ungarn. Sie arbeiten als Selbständige, ohne grosse Ab­sicherung. Vom milliardenschweren ­Umsatz (in der Schweiz: 0,5 bis zu 3,5 Milliarden Franken pro Jahr) ­haben die Frauen wenig. Der Grossteil des Geldes fliesst an Zuhälter, Bordell- und Clubbetreiber, Immobilien­besitzer und ­Investoren. Oder an ­«Loverboys» im Ausland. Also Männer, die so tun, als würden sie eine Frau lieben. Und sich von ihrer Sexarbeit ein Luxusleben ­finanzieren lassen.

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