Transportriese XPO: Rekord-Streik mit Erfolg

«Sie wollten uns für dumm verkaufen»

Jonas Komposch

Die Logistikfirma XPO Schweiz plante in Genf eine Massenentlassung ohne Sozialplan. Doch dann ­gaben 20 Chauffeure Gas – mit ­einem einzigartigen Streik.

HOCH DIE FAHNEN! Mit einem fast dreiwöchigen Streik erstritten XPO-Chauffeure in Genf einen Sozialplan mit Abfindungen für die ganze Belegschaft. (Foto: Eric Roset)

Mitten im Sommerloch und ohne die kleinste Notiz in der Deutschschweizer Presse ereignete sich in Genf Historisches: Gut 20 Chauffeure weigerten sich, im Zuge einer Betriebsschliessung mit leeren Versprechen abgespeist zu werden. Und mit ebenso leeren Händen auf der Strasse zu landen. Stattdessen traten sie am 29. Juni in den Streik. Gegen die XPO Supply Chain Switzerland, eine Tochtergesellschaft des US-Transportriesen XPO Logistics. Er ist weltweit berüchtigt für rücksichtslose Profitmaximierung, ein gewerkschaftsfeindliches Management und für den 2,2 Milliarden Dollar schweren Eigentümer Bradley Jacobs (64).

Viel Biss und Ausdauer waren also gefragt. Und genau das hatten die Genfer Chauffeure. Fast drei Wochen verschränkten sie ihre Arme – und meisterten damit den längsten Logistikstreik in der jüngeren Schweizer Geschichte. Und: Die Chauffeure hatten Erfolg. Zwar wird der XPO-Standort in Satigny GE definitiv geschlossen, doch dank dem Streik und einer Vermittlung von Regierungsrat Mauro Poggia winkt nun ein Sozialplan mit Abfindungen für die ganze Belegschaft. Für einen Teil der insgesamt 32 Mitarbeiter konnte sogar eine Weiterbeschäftigung ausgehandelt werden. Dabei war der Sieg alles andere als sicher.

«Es braucht jetzt endlich eine Sozialplanpflicht!»

FRANZÖSISCHER KRISENMANAGER

So zumindest sieht es Junior Mural *. Der breitschultrige Mittvierziger ist gewählter Personaldelegierter der Genfer XPO-Chauffeure und Streikteilnehmer der ersten Stunde. work trifft ihn im Café des Charmilles, einer brasilianischen Bar unweit der Unia-Zentrale. Auch Fahrerkollege Tiago ­Ferreira * sitzt am Stammtisch. Er grüsst mit der Corona-Faust, trinkt einen Schluck Ananassaft und sagt: «Hier heckten wir schon so manchen Plan aus!»

Der Konflikt mit dem Management begann nämlich bereits im Herbst 2019. Damals hatten die Chauffeure erfahren, dass der Liefervertrag mit dem einzigen Kunden des Genfer XPO-Standorts bald auslaufen werde. Mural erzählt: «Wir waren verunsichert und wollten wissen, was mit uns passiert, wenn keine Arbeit mehr da ist.» Das fragten die Chauffeure die Geschäftsleitung. Sie sitzt an den beiden übriggebliebenen XPO-Standorten Roggwil BE und Niederbipp BE. «Macht euch keine Sorgen», habe die Antwort gelautet. Dazu Ferreira: «Sie sagten, wir seien durch eine Personalschutzklausel abgesichert.» Details oder gar ­Belege seien aber nicht ausgehändigt worden. Mural: «Wir wurden skeptisch und holten die Unia ins Boot.»

Dann ging es zunächst schnell: Erste Personalvollversammlung, erneute Forderung nach Transparenz, Schlichtungstermin vor dem Kantonalen Einigungsamt und – Nervosität beim Schweizer Management. Welches prompt Verstärkung des Mutterkonzerns erhielt. Aus Lyon reiste ein Krisenmanager an, ein hohes Tier bei XPO Frankreich.

HINHALTETAKTIK

Dann kam Corona. «Das hat alles erschwert», sagt Mural. Denn während XPO nun von Kurzarbeit profitierte und so erneut Zeit gewann, konnten sich die Chauffeure nicht mehr im Betrieb treffen. Ihr Vorgehen mussten sie fortan mühsam im ­Internet diskutieren. Und dann das: «Plötzlich erfuhren wir, dass XPO für unseren Standort schon lange keine Zukunft mehr sehe», sagt Mural. Das sei zu viel gewesen, betont der Familienvater, «die wollten uns einfach hinhalten und für dumm verkaufen.» Kurz darauf der Paukenschlag: XPO gab die Standortschliessung bekannt, kündigte der ganzen Belegschaft und verweigerte einen Sozialplan. Ein solcher sei «nicht nötig», liess das Unternehmen verlauten.

Tatsächlich ist bei Massenentlassungen nur dann ein Sozialplan zwingend, wenn eine Firma mehr als 250 Angestellte zählt und innert 30 Tagen mindestens 30 Kündigungen ausspricht. XPO Schweiz war aber gerissen genug, die Belegschaften seiner drei Standorte über einen Zeitraum von zwei Jahren zu schrumpfen – von 560 auf knapp 150 Mitarbeitende. Ausserdem stellt sich das Management auf den Standpunkt, eine eigenständige Schweizer Firma zu sein. Darüber kann Ferreira nur den Kopf schütteln: «Was soll da eigenständig sein, wenn der Mutterkonzern sogar einen Krisenmanager aus Frankreich schickt? Das stinkt doch zum Himmel!» Der Zorn der Chauffeure hatte aber noch andere Gründe.

«Teamgeist hat uns zum Sieg geführt!»

WIE EIN PITBULL

XPO weigerte sich nämlich, die Unia als Verhandlungspartnerin zu akzeptieren. Ferreira: «Sie verlangten stattdessen eine Namensliste aller Gewerkschaftsmitglieder. So weit kommt’s noch!» Mitte Juni scheiterte schliesslich die zweite Vermittlung vor dem Einigungsamt. Dazu Mural: «Nun konnten wir nichts mehr verlieren, einstimmig beschlossen wir Streik.» Wobei einzelne Kollegen sich weder an der Abstimmung noch am Streik beteiligten. Man habe zwar versucht, auch sie zu überzeugen, sagt Mural. Doch: «Während wir für Zusammenhalt kämpften, setzte XPO auf Spaltung und Angst­macherei.» Vor allem das Gerücht von schwarzen Listen habe gewirkt. Zum Glück sei die Solidarität der Bevölkerung gross gewesen. An den insgesamt 13 Protestaktionen hätten sie viel Unterstützung erfahren. Von Passantinnen, Berufskollegen und sogar von Politikern wie SP-Nationalrat Carlo Sommaruga. Auch der zuständige Gewerkschaftssekretär Umberto Ban­diera erhält viel Lob von den Chauffeuren: «Wie ein Pitbull» habe der sich für sie eingesetzt. «Aber das Wichtigste», betont Chauffeur Mural, «das ist der Teamgeist. Er hat uns letztlich zum Sieg geführt.»

Ein schaler Nachgeschmack bleibe, denn die Gesetze bevorteilten die Unternehmer. Das kann Unia-Mann Bandiera bestätigen: «Trotz Kurzarbeit, die ja dem Erhalt von Arbeitsplätzen dienen soll, konnte XPO die Leute am Ende entlassen.» Das sei ein Missbrauch des Systems. Und noch etwas zeige dieser Fall deutlich: «Die Arbeitnehmenden in der Schweiz sind zu wenig geschützt. Es muss endlich eine Sozialplanpflicht her – und zwar für alle Fälle von Massenentlassungen.»

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