Fast 50 Prozent mehr Corona-Todesfälle als in der Schweiz

Schweden: Von wegen ­Vorzeigemodell!

Jonas Komposch

Der Lockdown in der Schweiz sei ­unnötig ­gewesen, behauptet ­«Weltwoche»-Chef ­Roger Köppel und andere rechte Marktanbeter. Und ­verweisen auf Schweden, das keinen Lockdown kennt. Doch sie irren.

ZU SCHÖN, UM COVID-FREI ZU SEIN: Restaurantbesucherinnen und -besucher geniessen in Stockholm die Frühlingssonne. Schweden bezahlt einen hohen Preis für das Leben ohne Corona-Lockdown. (Foto: Getty)

Schweden ist bekannt für Elche, vergorenen Fisch und hohe Steuern – ganz und gar nicht aber für einschneidende Massnahmen gegen Corona. Umso mehr aufhorchen liess ein Beschluss der südschwedischen Stadt Lund. Deren Umweltbehörde verkündete Ende April, sie werde im zentralen Stadtpark eine Tonne Hühnermist ausstreuen. Nur so könne sie verhindern, dass sich zu der traditionellen Walpurgisnacht wie jedes Jahr 30 000 Feiernde im Park versammelten. Behördenchef Gustav Lunblad erklärte gegenüber der Zeitung «Sydsvenskan»: «So haben wir nicht nur die Gelegenheit, die Parkwiese zu düngen, sondern es wird zugleich auch ziemlich stinken, weshalb es nicht so nett sein dürfte, im Park ein Bier zu trinken.» Das sei eine «beschissene Idee», empörten sich dagegen viele Lunderinnen und Lunder im Internet. Kein Wunder, denn gewohnt sind sie anderes.

Die schwedische Wirtschaft crasht härter als die ­schweizerische.

RECHTE SABOTEURE

Schweden setzt nämlich seit dem Ausbruch der Corona-Krise fast ausschliesslich auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Bis zum heutigen Tag sind Geschäfte, Schulen und Restaurants geöffnet. Genauso die Landesgrenzen. Und auch der Mindestabstand zwischen den Menschen beträgt bloss einen Meter. Aber selbst wenn die sozialdemokratisch-grüne Minderheitsregierung einen Lockdown wollte, würde sie ihn kaum hinbekommen. Denn anders als die meisten Staaten kennt Schweden kein Epidemiegesetz, das der Landesregierung in Notsituationen Vollmachten zu­gesteht. Noch jetzt muss prinzipiell jede ­Regierungsmassnahme vom Parlament abgesegnet werden. Und dieses wird von den Bürgerlichen dominiert, die der Regierung systematisch Steine in den Weg legen.

SVP-KÖPPEL FIEBERT

Mit den europaweit einzigartig laxen Corona-Regeln sorgte das skandinavische Land international für Kopfschütteln. Applaus gab es hingegen von rechten Marktanbetern, die den Profit des Einzelnen über die Gesundheit der Allgemeinheit stellen. Für sie war und ist Schweden der Beweis, dass ein Lockdown völlig überflüssig sei und viel zu viel koste. In der Schweiz vertrat diese Haltung zuerst und am lautesten SVP-Natio­nalrat Roger Köppel.

Kaum hatte der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausgerufen, schoss die «Weltwoche» scharf gegen das teilweise ­Herunterfahren der Wirtschaft. Köppels Rechtsaussenblatt fragte sogar: «Wie viel darf ein Menschenleben kosten?» Nur drei Tage später tauchte auch die NZZ am Sonntag auf dieses Niveau und stellte exakt dieselbe Frage. Die zynische Debatte war eröffnet, und auf der Suche nach Argumenten zeigten die Lockdown-Gegner stets gen Norden. Nach Schweden. Köppel selber behauptete am 16. April: «Schweden steht punkto Ansteckungen und Todesfälle besser da als die Schweiz.»

Tatsächlich stimmt das Gegenteil, wie die Statistiken des wissenschaftlichen ­Datendienstes Worldometer belegen: Am 16. April befanden sich die täglichen Neuansteckungen in der Schweiz längst im Sinkflug (+ 361), in Schweden dagegen stiegen sie kontinuierlich an (+ 502). Dies, obwohl der Virus in beiden Ländern praktisch zeitgleich ausgebrochen war. Auch die absolute Zahl der Toten war in Schweden schon damals höher. Und dies trotz der Schweizer Nähe zum italienischen Corona-Epizen­trum und auch trotz der viel geringeren Einwohnerdichte im weitläufigen Schweden. Doch lieber als Fakten mag Köppel markige Worte: Es sei «Willkürherrschaft», die der Bundesrat ausübe. Und überhaupt! Die Schweiz sei «wie auf Drogen», eine Diktatur zwar noch nicht, aber eindeutig «auf dem Weg dazu». Hat der «Weltwoche»-Chef vielleicht Fieber? Nein, er schreibt solchen Unsinn mit politischem Kalkül. Er will die schweizerische Corona-Bekämpfung diskreditieren. Und damit vor allem auch SP-Gesundheitsminister Alain Berset. Seine Politik sei «Seuchensozialismus» ätzte kürzlich auch Rechts-Chefredaktor Eric Gujer von der NZZ. Köppel & Gujer ist die bisher durchaus wirksame und auch einigermassen so­ziale Corona-Politik ein heftiger Dorn im Auge: zu viel Sozialstaat und zu wenig Laisser-faire-Politik. Und ­genau da muss Schweden als Corona-Vorzeigeland herhalten. Aus ideologischen Gründen.

DÜSTERE BILANZ

Denn auch die aktuellen Infektionszahlen sprechen kaum für den schwedischen Sonderweg: Noch in der zweiten Maiwoche starben täglich 78 Menschen an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung. Bereits sind 3460 Personen dem Virus erlegen (Stand: 13. Mai). Das sind mehr als dreimal so viele Tote wie in Finnland, Norwegen und Dänemark zusammen – allesamt Nachbarländer, die auf einen Lockdown gesetzt haben. Und die Zahl der Toten pro 100 000 Einwohner ist fast 50 Prozent höher als in der Schweiz. Kommt hinzu, dass die schwedische Wirtschaft vom ausgebliebenen Lockdown, wenn überhaupt, nur geringfügig profitiert. So prognostizierte die schwedische Reichsbank für das laufende Jahr einen Wirtschaftseinbruch von mindestens 6,9 Prozent. Zum Vergleich: Der Internationale Währungsfonds (IWF) sagt für die Lockdown-Länder Frankreich, Grossbritannien und Spanien einen Einbruch von rund 7 bis 8 Prozent voraus. Und für die Schweiz rechnet das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) mit einem BIP-Absturz von 6,7 Prozent. Auch da schneidet die Schweiz also besser ab als Schweden.

2 Kommentare

  1. Gunter Knauer

    Freunde, schaut nach Singapur. Dort wird hart durchgegriffen. Das Virus hat wenig Chancen.
    Die Chinesen werden diesen Gang auch gehen.
    Ich verweile dort des öfteren.
    Die lassen niemand rein, weil das Risiko zu groß sei. Das war aber schon immer so. Und wenn es in Einzelfällen doch gemacht wird. Dann wird die Person oder Familie auf Herzen und Nieren untersucht.
    Und der Journalismus darf nur über den Sachstand der politischen Lage berichten. Beleidigungen und sonstige Unwahrheiten werden mit hohen Geldstrafen versehen.
    Singapur ist auch das wettbewerbsfähigste Land der Welt.
    Eine Politik wie in Deutschland wäre dort nicht möglich. Und das ist für die Bürger gut so.

  2. Peter Bitterli

    Wieso hetzen die Schreiber der Gewerkschaften eigentlich gegen Kritik am Lockdown? Aus grundsätzlicher Freude am demokratischen Diskurs und der Einsicht in dessen Notwendigkeit und also auch diejenige abweichender Meinungen kann es ja wohl nicht sein. So wie es aussieht, geht man nach dem unterkomplexen Denkmodell „Guilty-by-Association“ vor. Also: Köppel sagt was, also falsch, also jeder falsch und schlecht, der das gleiche sagt. Das geht natürlich auch gegen ganze Länder wie etwa Schweden. Auch für Schreiber der Gewerkschaften. Ausserdem denkt man bei der Unia offenbar immer noch, es gebe so etwas wie ein gesellschaftsfernes Teilgebiet „Wirtschaft“, von dem nur die „Bonzen“ profizieren, was die Köppels „gierig“ macht, worauf diese – oho! – schweizerische Normalität einfordern. Was erlauben Köppel? Und was erlauben Schweden, dass sie etwas anderes versuchen als zwei sozialdemokratische Bundesräte? Wer bei euromomo.eu die neuesten Zahlen nachschaut, wird sehen, dass noch nicht einmal die Mär von den vielen Toten stimmt, die das möglicherweise umsichtigere schwedische Modell angeblich zu verantworten habe. Und überhaupt: Wie kommt man dazu, in einem so multifaktoriellen, komplexen Prozess wie diesem Seuchenverlauf unterschiedliche Länder zu unterschiedlichen Zeitpunkten nur deswegen abzuurteilen, weil der böse Köppel auch eine Meinung hat? Ende der intellektuellen Leistung.

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