Generalstreik in Frankreich:

Millionen Menschen gegen Macron

Oliver Fahrni

Opposition,­ Klimajugend, Gewerkschaften und Gelbwesten fordern die Regierung zum grossen Kräftemessen. Dabei geht es um viel mehr als um die Rentenreform.

«MACRON MUSS WEG!»: In ganz Frankreich gingen 1,5 Millionen Menschen auf die Strasse, hier in Nantes. (Foto: Getty)

Scheiben splittern, ein Kehrichtcontainer brennt. Zündelt da der schwarze Block, oder sind es die Provokateure des Innenministeriums? Sofort beginnen die Polizisten die riesige Menschenmenge, die bunt und laut vom Pariser Boulevard Magenta Richtung Place de la République strömt, mit Reizgas und Sprenggranaten einzudecken. Es sind weit mehr als 100’000, die allein in Paris gegen die Renten­reform von Präsident Emmanuel Macron demonstrieren.

Der Demo-Ordnungsdienst der Gewerkschaften CGT, FO und Sud hat in Sachen Taktik dazugelernt. Eine fliegende Flasche genügt, und die Polizisten treten eine Gewaltorgie los. Mit Kriegsgerät, das anderswo geächtet ist. In den 18 Monaten seit Macrons Machtübernahme haben sie mehr Munition gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt als in den 70 Jahren zuvor, Mai 1968 eingeschlossen. Zuerst, um ein brutales Arbeitsgesetz zu erzwingen. Dann gegen die Eisenbahner und gegen die Schülerinnen. Woche um Woche gegen die Gelbwesten. Oder gegen den 1. Mai.

Bilanz: 2 Tote, mehr als 1000 schwer verletzte Demonstrierende. Also plaziert der Demo-Ordnungsdienst diesmal rasch streikende Feuerwehrleute an die Spitze, und die ziehen die Demo aus der Kampfeszone.

FURCHT VOR DER POLIZEI

830’000 Demonstrantinnen und Demons­tranten hat das Innenministerium an diesem 5. Dezember im ganzen Land gezählt. Misst man das an der üblichen Zahlenschummelei, dürften es also etwa 1,5 Millionen Menschen gewesen sein, vielleicht sogar mehr, in 250 Orten bis in die hintersten Ecken des Landes.

Es war der erste Generalstreiktag im grossen Kräftemessen um die Renten (siehe Kasten) und um einige Dinge mehr. Der öffentliche Verkehr lag still, viele Schulen und Unis blieben geschlossen, der Flugverkehr stockte, Benzindepots waren blockiert, Verwaltungen, Gerichte, Spitäler funktionierten stark verlangsamt. Und so ging das bis work-Redaktionsschluss am 11. Dezember weiter.

Es hätten sich sogar noch mehr Menschen zum Protest versammeln können.
70 Prozent lehnen die antisoziale Politik Macrons ab, und sie hassen seine neoliberale Arroganz. «Macron muss weg», ist derzeit der meistgehörte Satz, 18 Monate nachdem er mit weniger als einem Viertel der Stimmen gewählt worden ist. Doch inzwischen fürchten sehr viele die Gewalt des Staates, wie Debatten auf den sozialen Medien zeigen. Sarah, eine Ärztin, erklärt: «In Chile sagen sie: ‹Sie haben uns alles genommen, sogar die Angst.› Bei uns ist es noch nicht so weit.» Sie denkt nach. «Noch nicht ganz.»

DIE RENTEN-LÜGE

Vergleiche mit Chile, mehr noch mit Algerien und mit den vielen anderen laufenden Rebellionen, sind das Dauergespräch. So fühlt sich derzeit die Stimmung in Frankreich auch an. «Es ist wie vor einem Wirbelsturm, es liegt Elektrizität in der Luft», sagt ein Anwalt. Die Menschen sind aufgebracht, viele zornig: Über den sozialen Abbau. Die erneut stark wachsenden Unterschiede und die zusätzliche Armut. Über die Lügen der Minister. Lokführer könnten mit 52 in Pension und bezögen 3700 Euro Rente, brachte die Regierung in Umlauf.

Im Gesetz steht jedoch: nach 43 Beitragsjahren. Der Lokführer müsste also im zarten Alter von 9 Jahren begonnen haben. Und Macron will das noch verschärfen. work hat den Bähnler Thierry Babec gefragt. Er geht demnächst in Pension. Mit 58 – und 1600 Euro (1760 Franken), nach Hunderten von Nacht- und Wochenenddiensten. Wäre er 10 Jahre jünger, bekäme er bei der Pensionierung noch sehr viel weniger.

«REVOLTE TOTAL»

Zwischen Mächtigen und Regierten ist zu viel zusammengekommen: zu viel Verachtung, zu viel Sozialabbau und neue Unsicherheit, zu viele gebrochene Versprechen. Jetzt treten auch brave Gewerkschafter mit dem Transparent auf: «Marx – oder verrecke.» An den Demos geht es um Renten. Aber auch ums Klima. Um Gewalt gegen Frauen. Um Lohnsenkungen und Privatisierung der Pariser Flughäfen. Und und und … Über dem Bahnhof Saint-Charles in Marseille steht jetzt schlicht: «Widerstand!» Edwy Plenel, der Gründer der exzellenten Onlinezeitschrift «Mediapart», sagt: «Alles kommt jetzt hoch, es ist Revolte total.»

Vor Wochen, auf dem Höhepunkt der Bewegung der Gelbwesten, hatte Präsident Macron einen Flucht-Helikopter bereitstellen lassen. Heute ist die Stimmung noch angespannter. In seiner Not versuchte Regierungschef Edouard Philippe am Mittwoch, 11. Dezember, die Bewegung zu spalten: er versprach Militär, Polizei und Lehrpersonal eine Sonderbehandlung. Gleichzeitig machte er klar: «Das ziehen wir jetzt durch.» – «Wir auch», riefen die Gewerkschaften zurück.

Rentenreform: Desaster ist programmiert

Präsident Macron will das Rentensystem kippen. Bisher funktionierte es ähnlich wie unsere AHV, nach dem Umlageprinzip. Jetzt soll es durch ein Punktesystem ersetzt werden: Für jeden einbezahlten Euro gibt es ­einen Punkt. Die Punkte werden später in eine Rente umgewandelt – nach einem jährlich neu bestimmten Satz.

PROFITGIER. Das ist der erste Schritt zur Individualisierung, Privatisierung und Kapitalisierung der Altersvorsorge. Ein programmiertes Desaster, wie die zweite Säule zeigt. Aber Quelle netter Profite für die Ver­sicherer. Die Reform sei eine Frage der ­Gerechtigkeit, sagt Macron, weil 42 Berufsgruppen über Sonderregimes verfügten, ­wegen kürzerer Lebenserwartung. In Wahrheit wurden diese Regime längst abgeschliffen – durch Rentenreformen, die sich im Durchschnitt alle 24 Monate jagen.


Der Präsident der Reichen hat das Volk verstanden. Ein bisschen. Emmanuel Macron verspricht zu wenig, zu spät

EMMANUEL MACRON: Frankreichs Präsident ist ein neo­liberaler Hardliner. (Foto: Keystone)

Was man als Staatsschauspieler so alles auf sich nehmen muss: Emmanuel Macron, vor 18 Monaten von 25 Prozent der Stimmberechtigten gegen die Neofaschistin Marine Le Pen zum französischen Präsidenten gewählt, musste vors Volk treten. Am TV. Ein bisschen Abbitte sollte er leisten, um den Aufstand der Gelbwesten einzudämmen. Jenen Aufstand, den er zuvor geschürt hatte – mit einer aggressiv antisozialen Politik und mit Verachtung für Tiefentlöhnte, Alte, Arbeitslose. Wenn ihr einen Job sucht, müsst ihr nur über die Strasse gehen, hatte er ihnen geraten.

Es sassen mehr Menschen vor den Fernsehgeräten als beim Fussball-WM-Final. Doch Macron konnte nicht verbergen, wie tief zuwider ihm dieser Auftritt war. Bleich und verkrampft las er, in einer zusammengeschnittenen Aufzeichnung, einen Text vom Teleprompter ab. Frühere Präsidenten hätten einfach den Premier ausgewechselt. Das ging diesmal nicht. Denn die Rage von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung richtete sich ausschliesslich gegen den «Präsidenten der Reichen». Sein Text war gut geschrieben. Also hinterhältig. Plötzlich schien Macron die Nöte zum Beispiel einer alleinerziehenden Pflegerin zu entdecken. Er versprach, den Mindestlohn sofort um 100 Euro zu erhöhen und ein paar weitere Brosamen.

Plötzlich schien der Präsident die Nöte einer ­allein­erziehenden Pflegerin zu kennen.

ALMOSEN. Doch zwischen den Zeilen sagte er: Ich werde keinen Millimeter von meinem neoliberalen Programm abweichen, die Reichensteuer bleibt abgeschafft, und jetzt nehme ich mir die Renten und die Arbeitslosenversicherung vor. Hofjournalisten lobten prompt «die soziale Wende». Doch nur zwei Minuten nach Macron erschien Jean-Luc Mélenchon, Chef der Linken, im Medienraum: «Wir brauchen mehr als Almosen. Die Revolution der Bür­gerinnen und Bürger wird gross!» Zu ­wenig und zu spät, meinten ein paar ­befragte Gelbwesten. Und die Gewerkschaft CGT kündete für den 13. Dezember einen Landesstreik an.

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