Nach dem Berliner Mauerfall fielen auch in der Schweiz die Mauern

1989 verlor die Schweiz ihre Unschuld

Hans Ulrich Jost

Am Anfang stand ein Telefonanruf einer ­Bundesrätin an ihren Ehemann, am Ende die ­helvetische Götter­dämmerung: Was alles vor 30 Jahren geschah, ist unglaublich!

HEILIGE KUH: Selbst die Armee kommt 1989 fast unters Messer. (Foto: Keystone)

1989, als die Berliner Mauer fiel und das So­wjetimperium sich aufzulösen begann, erlebte die Schweiz heftige politische Erschütterungen. Die traditionelle politische Kultur fiel in sich zusammen.

Am Anfang steht ihr Telefonanruf, am Ende ihr Rücktritt: FDP-Bundesrätin Elisabeth Kopp, die erste Frau im Bundesrat, muss gehen. Sie hat vertrauliche Informationen der Bundesanwaltschaft an ihren Ehemann, den Wirtschaftsanwalt Hans W. Kopp, übermittelt. Es geht um Geldwäscherei einer Firma, in deren Verwaltungsrat Kopp sitzt. Die Vorstellung, ein Mitglied der Regierung sei durch ihren Ehemann in suspekte Wirtschaftsoperationen verwickelt, bringt Bewegung in die Politik.

Hans Ulrich Jost, Historiker. (Foto: Franziska Scheidegger)

Doch der Kopp-Rücktritt ist nur ein Miniskandal, verglichen mit der politischen Krise, die ihm auf dem Fuss folgt: die Fichenaffäre. Um den Fall Kopp aufzuarbeiten, setzen National- und Ständerat eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) ein. Geleitet wird diese von SP-Nationalrat Moritz Leuenberger, dem späteren Bundesrat. Und sie stösst bei ihrer Arbeit auf ein bisher geheimes politisches Überwachungssystem bei der Bundesanwaltschaft. Auf die Schnüffelpolizei. Sie hat fast eine Million Menschen bespitzelt und in Fichen registriert. Am 22. November 1989, 13 Tage nach der Öffnung der Berliner Mauer, übergibt die PUK ihren Fichenstaat-Bericht der Öffentlichkeit. Der Schock ist enorm. Die Schweiz hat, so der Bericht, ein polizeiliches Spitzelsystem eingerichtet. So, wie man es sonst nur in autoritären Staaten oder Diktaturen findet. Der Überwachungsapparat richtet sich vor allem gegen Fremde, Linke oder gesellschaftskritische Personen. Die Aufarbeitung des Skandals und die Grossdemonstration gegen den Fichenstaat vom 3. März 1990 brachten die Bürgerlichen, allen voran die FDP, schwer ins Wanken.

1989 ging es Schlag auf Schlag: Kopp-Affäre, Fichen-Skandal, Armee­abschaf­fungs-Initiative.

DREIZACK & DIAMANT

Kopp-Affäre, Fichenskandal und die Armee: 1989 kommt auch die heiligste Kuh der Schweiz beinahe unters Messer. Die Initiative der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) fordert nichts mehr und nichts weniger als die Abschaffung der Schweizer Armee. Anfänglich nimmt man diese Initiative gar nicht ernst. Doch am 26. November 1989 sagen mehr als ein Drittel der Abstimmenden an der Urne Ja. Die Kantone Genf und Jura nehmen die Initiative sogar an. Seither hat sich die Armee, die von einer misslungenen Revision in die andere schlittert, nie mehr erholt.

Wie anders hatte die Welt der Armeefreunde noch zu Beginn dieses bewegten Jahres ausgesehen: sie feierten bombastische Feste. Unter dem Namen «Dreizack» führen sie in der Ostschweiz mit 20’000 Wehrleuten ein gewaltige Gesamtverteidigungsübung durch. Zudem feiert die Luftwaffe ihr 75jähriges Bestehen. Hinzu kommt ein unter dem Titel «Diamant» von der Armeeführung organisierter Grossanlass zum Gedenken an die Mobilisation von 1939, also an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es geht auch darum, die abgeflaute Begeisterung fürs Militär neu zu entfachen – und damit die Initiative für die Abschaffung der Armee in Schach zu halten.

Die offizielle Schweiz feiert den Ausbruch eines der schlimmsten Kriege, der Millionen von Toten gefordert hatte. Das ist ein moralischer Tiefschlag. Jean Rudolf von Salis, der grosse Historiker, meinte damals denn auch zu Recht: «Mir scheint, dass wir keine Lorbeerkränze auszuteilen, keine Triumphbögen zu errichten haben. Es waren andere, die im Zweiten Weltkrieg auch für uns geblutet haben.»

RAUBGOLD & MAX FRISCH

Zum Entsetzen der patriotisch gesinnten Rechten lösen die «Diamant»-Feierlichkeiten eine breite Diskussion über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aus. Die Geschichtsforschung widerlegt die langgehegte Vorstellung, die Armee habe uns vor einem Überfall durch Hitlerdeutschland bewahrt. Gleichzeitig zeigt sie auf, wie die Schweiz während des gesamten Krieges intensiv Handel mit Nazideutschland getrieben und grosszügig Kredite gewährt hatte. Weiter wird ­bekannt, wie die Schweizer Nationalbank ihrerseits bereitwillig Raubgold aus deutscher Hand akzeptierte und gegen Schweizerfranken wechselte. Und so fällt die heroische Geschichtsschreibung der Schweiz als Hort des Widerstandes in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Mitten in diese helvetische Götterdämmerung hinein erhebt einer seine Stimme, der vom Schnüffelstaat ebenfalls überwacht und fichiert worden ist: der damals 78jährige Schriftsteller Max Frisch. Unter dem Titel «Jonas und sein Veteran» legt er ein Theaterstück vor, das am 19. Oktober 1989 im Schauspielhaus Zürich Premiere hat. Es geht um die Rolle der Armee im Zweiten Weltkrieg. Die damit ausgelöste Debatte ist an Gehässigkeit von Seiten der Rechten nicht zu überbieten.

Doch die Affären und Krisen bestimmen die Zukunft der Eidgenossenschaft: 1989 verliert die Schweiz ihre immer wieder gepriesene Unschuld.

* Hans Ulrich Jost ist Geschichtsprofessor, er lebt in Lausanne.

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