Francesca Rossi arbeitet seit 33 Jahren in der Fabrik – für 3200 Franken

«Es muss einfach!»

Jonas Komposch

Sie chrampft ohne Unterbruch. Und doch reicht es kaum zum Leben. Eine Ostschweizer Industrie­arbeiterin erzählt, was es heisst, eng durchzumüssen.

HARTE BÜEZ: Ruhe und Entspannung kennen diese Hände nicht. Francesca Rossi chrampft am Fliessband für einen tiefen Lohn, kümmerte sich um die Kinder, ging jahrelang am Wochenende putzen oder in den Schrebergarten. (Foto: Stephan Bösch)

Zwei Jahre noch, dann hat sie’s geschafft. Dann muss Francesca Rossi nie mehr in die Fabrik, muss keine Früh-, Spät- oder Nachtschichten mehr leisten, keine Wochenenden mehr am Fliessband verbringen und rastlosen Robotern zudienen. In zwei Jahren nämlich wird die 62jährige pensioniert. Und dann kann sie sich endlich zurücklehnen. Ein wenig zumindest, denn sie weiss: Mit ihrer AHV-Rente wird sie auch künftig haarscharf kalkulieren müssen.

Schliesslich hat die Arbeiterin nie mehr als 3200 Franken im Monat verdient – trotz stets vollem Pensum. «Und was», fragt Rossi, «was, wenn ich mich einmal nicht mehr um mein Haus kümmern kann?» Dann werde sie in eine Mietwohnung umziehen müssen. Und die heutigen Mietzinse geben ihr schon jetzt zu denken. Hinzu kommt die Zukunft «ihrer» Fabrik: Voraussichtlich wird sie bald dichtgemacht und nach Osteuropa ausgelagert. Dies, nachdem der Chef, ein pauschalbesteuerter Millionär, zuerst das Arbeitstempo und die Wochenarbeitszeit, nicht aber die Löhne erhöht hat. Dann werde sie wohl stempeln gehen müssen, sagt Rossi. Zum ersten Mal in ihrem Leben, kurz vor der Pension. Sorgen habe sie deshalb schon manchmal, aber keine Angst. Irgendwie sei es schliesslich immer gegangen: «Man muss sich gut organisieren und zu helfen wissen.» Und das habe sie sehr wohl gelernt in ihren 40 harten Jahren in der Schweiz.

In den Ferien war Rossi im letzten ­Sommer zum aller­ersten Mal.

EINSATZ DER GANZEN FAMILIE

Rossi kam 1979 aus Süditalien in die Schweiz. Als Fabrikarbeiterin ins St. Galler Rheintal. Mit ihrem Mann, einem italienischen Bauarbeiter, gründete sie in den 1980er Jahren eine Familie (siehe Kasten). Drei Kinder durchzubringen sei nicht leicht gewesen, erzählt sie. Auch mit zwei Löhnen nicht. Rossi: «Wir mussten den Gürtel immer ganz eng schnallen.» Und es brauchte den vollen Einsatz der ganzen Familie. Für eine Mietreduktion etwa renovierte Rossis Mann in jahrelanger Arbeit das Haus der Vermieterin. Die Kinder wiederum mussten schon früh selbständig werden. Wenn nämlich am Morgen früh ihr Wecker klingelte, war der Vater bereits auf einer Baustelle, die Mutter längst in der Fabrik. Doch Francesca Rossi kümmerte sich, so gut es ging, von der Werkhalle aus: «Mit dem Betriebstelefon rief ich zu Hause an und schaute, ob die Kinder auch wirklich aufgestanden sind.»

SCHREBERGARTEN STATT FERIEN

Entspannung war nicht einmal an Wochenenden garantiert. Denn die Familie achtete immer darauf, nichts schuldig zu bleiben. Rossi beteuert: «Rechnungen haben wir stets korrekt und pünktlich bezahlt.» Damit dies möglich war, ging sie an Wochenenden noch Privatwohnungen putzen. Aber auch wochentags hörte die Arbeit nicht einfach auf, wenn die 8,5-Stunden-Schicht in der Fa­brik zu Ende war. Weiter ging es zu Hause, wo Mama Rossi jeweils gleich für den Znacht und den nächsten Zmittag kochte. Aber nicht schnelle Fertiggerichte. «Viel zu teuer!» meint Rossi, und: «schmecken nach nichts.» Von den Ravioli über den Pizzateig bis hin zu den Lasagneblättern – alles «fatto in casa», hausgemacht, sagt sie stolz. Gemüse und Früchte kamen ausschliesslich vom Schrebergarten, in dem Rossi noch heute fast die gesamte Freizeit verbringt.

Ferien dagegen, gar im Ausland, oder Wintersport in den Bergen, direkt vor der Haustür, konnte sich die Familie nie leisten. Nur einmal im Jahr lag ein Luxus drin: ein Restaurantbesuch zum Geburtstag des Familienvaters.

Wegen ihres Arbeitspensums und des tiefen Lohns seien viele Kolleginnen überrascht. «Wie machst du das bloss, Francesca?» fragten diese. Eigentlich wisse sie das auch nicht, gesteht sie. «Es muss einfach!» sagt sie. Dabei ist es offensichtlich: Diese Frau verfügt über enorme Kräfte, eiserne Disziplin und einen starken Willen zugleich: Noch heute kocht sie selbst – immer. Noch heute arbeitet sie ohne Unterbruch – oft auch Sonderschichten. Und noch heute zieht sie alles Gemüse selbst – in der kostbaren Freizeit.

EIN KONZERT? NOCH NIE!

Ausserdem weiss Rossi genau, was Verzicht heisst: Luxusartikel etwa leistet sie sich nie. Selbst Wein kauft die passionierte Köchin kaum, sondern importiert ihn günstig von einem Onkel aus Italien. Auf Aktionen aber achtet sie bei jedem einzelnen Einkauf. Auch kulturelle Vergnügen oder Hobbies liegen keine drin. Rossi geht nie ins Kino. In den Ferien war sie im letzten Sommer zum allerersten Mal. Und an einem kostenpflichtigen Konzert war sie ihr ganzes Leben noch nicht. Sie, mit ihrer grossen Leidenschaft für Italo-Rock. «Aber wer weiss», sagt Rossi, «wer weiss, was passiert, wenn Gianna Nannini wieder einmal in die Gegend kommt.»

Fabrikarbeiterin: Halbes Leben am Fliessband

Francesca Rossi heisst eigentlich anders, will aber aus Angst vor einer Kündigung ihren Namen nicht in der Zeitung lesen. Wegen eines Stellen­angebots kam Rossi 1979 aus Süditalien ins St. Galler Rheintal. Dort heiratete sie einen Bau­arbeiter, auch er ein italienischer Saisonnier, und gebar einen Sohn. Einen Mutterschaftsurlaub gab es damals nicht. Nur 11 Franken bezahlte ihr die Firma pro Fehltag nach der Geburt.

HEFTIG. Rossi sah sich gezwungen, ihren ge­lernten Beruf aufzugeben und in einen Industrie­betrieb mit betriebsinterner Kinderkrippe zu wechseln. Seither steht sie von Montag bis Freitag am Fliessband. Gerne hätte das junge Ehepaar bald ein weiteres Kind gehabt. Doch bis sie sich das leisten konnten, dauerte es volle zehn Jahre. Und dann, kurz nach dem zweiten Kind, folgte noch ein drittes. Heute ist der Nachwuchs ausgeflogen, der Mann verstorben. Bis sie selbst pensioniert ist, bezieht sie als Witwe noch 1700 Franken aus der FAR-Rente ihres Gatten. Dieser hatte mit der Gewerkschaft erfolgreich für den flexiblen Altersrücktritt (FAR) auf dem Bau gekämpft.

EINE VON TAUSENDEN. Industriearbeiterin Francesca Rossi ist nicht die einzige, die wegen eines Tieflohnes jeden Franken zweimal umdrehen muss: Mehr als eine Viertelmillion Frauen verdienen in der Schweiz netto ­keine 4000 Franken – trotz einem Vollzeitpensum! Das ist jede sechste voll Erwerbstätige.

ZAHLTAG! Damit muss endlich Schluss sein, ­fordert die Unia für die kommenden Lohnverhandlungen. Konkret will die Gewerkschaft 2 Prozent mehr auf alle Löhne und zusätzlich mindestens 50 Franken mehr pro Monat für jede Frau. Die Wirtschaft könne sich das leisten, sagt Unia-­Chefin Vania Alleva, denn diese brumme (Zahlen, Fakten und Analysen hier: rebrand.ly/loehne-rauf). Alleva: «Jetzt muss endlich Frauenzahltag sein!»

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