Post-Tochter muss Zeitungsverträgern 600'000 Franken Lohn nachzahlen

«Die Chefs waren richtige Diktatoren»

Christian Egg

Illegale Lohndrückerei und Schikanen, das war Alltag bei der Firma Epsilon in Genf. War! Dank dem Mut von Andrès Arciniegas und José Serantes ist jetzt alles besser.

HINGESTANDEN: Andrès Arciniegas und José Serantes (vorne) liessen sich eines Tages von der Chefs der Post-Tochter Epsilon nicht mehr alles gefallen – und holten sich Unterstützung von der Unia. (Foto: Pierre-Antoine Grisoni)

Postausträger Andrès Arciniegas (43) lacht und sagt: «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal dem Personalchef der Post in seinem Büro in Bern ­gegenübersitzen und auf Augenhöhe mit ihm ­sprechen würde.» Aber so war es. Arciniegas war Teil einer Delegation, die mit der Post über die ­Arbeitsbedingungen bei der Genfer Zustellfirma und Post-Tochter Epsilon verhandelte. Überaus ­erfolgreich: Alle Zustellerinnen und Zusteller haben jetzt einen Vertrag bekommen, der die kantonalen Mindestlöhne plus Nachtzuschläge einhält. Das war nicht immer so.

«Jetzt ist es eine richtige Firma.»

VOGEL FRISS ODER STIRB!

Arciniegas und sein Kollege José Serantes (45) sind sogenannte Frühzusteller. Mit der Vespa liefern sie jeden Morgen die Zeitungen in die Briefkästen. Um vier Uhr früh fangen sie an, bei schlechtem Wetter früher. Damit sie spätestens um sechs fertig sind. Sie arbeiten zusammen mit rund 80 Kolleginnen und Kollegen. Die beiden berichten von unhalt­baren und gesetzeswidrigen Zuständen, die bei ­Epsilon geherrscht hatten. So wurde ihre Arbeitszeit nicht erfasst. Dabei sei diese stark vom Wetter abhängig. Im Winter, wenn Schnee liegt, kann eine Tour mehr als doppelt so lange dauern. Doch José Serantes Verdienst war immer der gleiche, nämlich gerade einmal 39 Franken pro Tag, plus 9 Franken fürs Benzin. Einen Zuschlag für Nacht­arbeit, wie ihn das Gesetz vorschreibt, gab es nie. Pro Monat erhielt er rund 1200 Franken. Andrès Arciniegas dagegen machte zuletzt zwei Touren hintereinander und verdiente dadurch etwas mehr. Er sagt: «Aber die letzten vier Jahre hatte ich keinen ­Arbeitsvertrag. Der Chef sagte mir, das sei nicht ­nötig.»

Diese mickrigen Löhne hätten die Epsilon-Chefs immer noch weiter gedrückt mittels Änderungskündigungen, also einem neuen Vertrag mit schlechterem Lohn. Arciniegas: «Statt 1000 verdiente ein Kollege dann nur noch 800 Franken.» Nach dem Motto: Vogel friss oder stirb! Doch damit nicht genug. Die Chefs waren «richtige Dikta­toren», äusserst arrogant gegenüber den Mit­arbeitenden.

DAS FASS LÄUFT ÜBER

Für Arciniegas und Serantes ist klar: Die Firma hat sie ausgenutzt, weil sie Ausländer sind. Serantes kommt aus Spanien, Arciniegas ist Kolumbianer. Er sagt: «Wir haben das alles akzeptiert, weil wir nicht wussten, was in der Schweiz gilt.» Die Firma konnte ihnen also ein A für ein Epsilon vor­machen. Bis im Sommer 2018: Da stellte der ­Zürcher Medienkonzern Tamedia die Westschweizer Tageszeitung «Le Matin» ein. Wenige Tage ­später sprach Epsilon allen 80 Verträgerinnen und Verträgern eine Änderungskündigung aus. Ihr Lohn hätte wieder gedrückt werden sollen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Etwa 40 Mitarbeitende stehen auf und wehren sich. Sie sammeln Geld für eine Anwältin und ­schreiben einen Brief an die Chefs. Diese versuchen die Unzufriedenen einzuschüchtern. Doch sie ­wenden sich an die Unia. Dann berichtet «10 vor 10» über die «Dumpinglöhne beim Post-Konzern». Schliesslich will die Post verhandeln.

«Die letzten vier Jahre hatte ich keinen Arbeitsvertrag.»

CHEF GESCHASST

Und so kommt es, dass Verträger Arciniegas plötzlich Martin Camenisch gegenübersitzt, dem ­obersten Personalchef der Post. Zusammen mit drei seiner Kollegen. Und dass er die gesetzes­widrige Lohndrückerei und die Schikanen anprangern kann. Die Zahlen kennt er genau, hat er doch auch auf dem Epsilon-Büro gearbeitet. Er erzählt von einem Kollegen, der für eine Tour von zwei Stunden nur 25 Franken bekommt. Macht einen Stundenlohn von 12 Franken 50. Arciniegas: «Das wusste die Post nicht!» Die Epsilon-Chefs in Genf hatten die Zahlen geschönt. Sie sind unterdessen entlassen worden. Jetzt zahlt die Post ­allen aktuell B­e­schäftigten die Differenz zu den korrekten Löhnen nach. Die gesamte Summe der Nachzahlungen ist vertraulich. Laut «10 vor 10» liegt sie aber bei rund 600’000 Franken. Und Epsilon bezahlt jetzt Mindestlöhne zwischen 21.20 und 24.50 (inklusive Ferienentschädigung und Anteil Dreizehnter).

Auch alle Änderungskündigungen hat die Post zurückgenommen. Und – ganz wichtig: Die Schikanen der Chefs haben endlich aufgehört. José Serantes sagt: «Jetzt ist es eine richtige Firma!»

Deutschschweiz: Miese ­Löhne bei Presto

In der Deutschschweiz hat die Presto AG heute fast ein Monopol in der Frühzustellung. In den letzten zehn Jahren schluckte sie beinahe alle regionalen Verteilorganisationen wie die Prevag (Basel), Zuvo (Zürich) oder Bevo (Bern). Diese waren ursprünglich von den Zeitungsverlagen gegründet worden. Die Presto gehört zu 75  Prozent der Post.

ÄRGER. Immer wieder sorgten schlechte Arbeitsbedingungen für Ärger: 2014 strich die Presto die bezahlten Feiertage zusammen, 2016 berechnete sie Touren neu, so dass die Verträgerinnen und Verträger einen Drittel weniger Lohn bekamen. Die Presto und die Gewerkschaft Syndicom haben einen GAV ausgehandelt. Der ­aktuelle Mindestlohn liegt bei 18.27 Franken pro Stunde, plus 10 Prozent Nachtzuschlag.

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