Wenn sie sich weigerte, im Restaurant mitzuhelfen, schlugen ihre Eltern sie

«In der Schule sagte ich, ich sei mit dem Velo gestürzt»

Christian Egg

Mit 16 flüchtete Nesrin Rahimi ins Mädchenhaus. Jetzt hat sie erstmals ein eigenes Leben.

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ES GEHT AUFWÄRTS: Ihre Eltern zwangen Nesrin Rahimi jahrelang zum Arbeiten, bedrohten und schlugen sie. Doch dann entschloss sie sich zur Flucht – und lebt jetzt endlich ihr eigenes Leben. (Foto: Nicolas Zonvi)

Wenn nur das mit dem Koffer nicht gewesen wäre! Ihre Flucht hatte sie gut geplant. Bei ihrem Job in Zürich hatte sie sich für den 17. Oktober 2018 zur Frühschicht eingetragen. Damit sie morgens um sechs aus der Wohnung konnte, wenn alle noch schliefen. Die Eltern sollten erst am Ende der Schicht merken, dass sie nicht mehr nach Hause kommen würde. Bis dann wäre sie schon im Mädchenhaus, an einem geheimen Ort.

Nesrin Rahimi* stand früh auf, um zu packen, «aber dummerweise liess ich den Koffer fallen, und die Eltern wachten auf», erzählt die junge Frau.

Fluchtartig rannte sie aus der Wohnung. Sie schaffte es zwar auf den Bus zur Arbeit. Aber die Eltern durchsuchten ihr Zimmer und merkten, dass sie wegwollte. Zwei Stunden später stand der Vater in der Firma und verlangte seine Tochter zu sehen. Zusammen mit der Polizei.

Doch Nesrin Rahimi griff zum Telefon und rief die Schulpsychologin an. Die wusste, dass die 16jährige zu Hause geschlagen und als Gratis­arbeiterin ausgenutzt wurde. Nach mehreren Telefonen und Verhandlungen mit der Polizei setzte Nesrin sich durch: Anstatt nach Hause brachte eine Polizistin sie ins Mädchenhaus. In Sicherheit.

«Das war ziemlich crazy», sagt Rahimi heute und lächelt. Und erzählt. Wie sie fast nie mit anderen Kindern abmachen durfte. Wie sie plötzlich nicht mehr fernsehen durfte. Dass sie nie in den Ausgang durfte.

KEINE GUTE TOCHTER

Und dass sie chrampfen musste. Jeden Abend. Ohne Lohn. Ihre Eltern, die aus Afghanistan in die Schweiz eingewandert sind, haben ein Restaurant. Rahimi: «Mein Vater sagte immer: Es ist Aufgabe der Tochter, im Betrieb der Eltern zu helfen.» Die beiden jüngeren Brüder mussten das nicht. Aber sie musste ins Restaurant, sobald sie von der Schule nach Hause kam. Sie arbeitete im Service oder in der Küche, bis 23 Uhr. Erst danach machte sie die Hausaufgaben fürs Gymi. Manchmal kam sie erst um zwei ins Bett. Kein Wunder, war sie in der Schule dauernd müde. Und Freizeit, das kannte sie nicht.

Wenn sie aufbegehrte, schlug sie der Vater. «Einmal hatte ich im Gesicht blaue Flecken», sagt Rahimi, «in der Schule sagte ich, ich sei mit dem Velo gestürzt.» Nur einmal, mit neun, erzählte sie’s einer Tante. Nichts passierte.

Noch häufiger als Schläge gab es Drohungen. Wenn sie nicht arbeite, schlage er ihr die Pfanne ins Gesicht, sagte der Vater oder: «Wenn du die Gymi-Prüfung nicht bestehst, werfen wir dich raus.» Die Eltern drohten auch mit Zwangsheirat oder damit, Nesrin aus der Schule zu nehmen. Das wäre für sie das Schlimmste gewesen, sagt sie.

Die Eltern waren einfach nie mit ihr zufrieden. Vor allem die Mutter beschimpfte sie immer wieder: Du kannst das nicht, du bist keine gute Tochter! Die Eltern lasen alle ihre Mails, alle Chats auf dem Handy. Dank Handy-Ortungsfunktion wussten sie immer, wo Nesrin war.

DER EINZIGE AUSWEG

Lange hatte Nesrin ein schlechtes Gewissen, wenn sie gegen die rigiden Vorstellungen der Eltern rebellierte. Doch letzten Sommer merkt sie plötzlich: So kann es nicht weitergehen. «Ich hatte null Selbstvertrauen, war ängstlich und übermüdet, fühlte mich einsam und todunglücklich.» Sie geht zur Schulpsychologin. Mehrere Gespräche mit den Eltern bringen keine Lösung. Es wird klar: Das Mädchenhaus ist der einzige Ausweg.Die Zeit dort ist extrem intensiv. «Es ging uns zwar allen richtig scheisse», erzählt Rahimi, «aber es war die coolste Zeit meines Lebens.» Endlich hat sie Leute um sich, die sie verstehen. Viele von ihnen haben ähnliches durchgemacht.

Nach drei Monaten im Mädchenhaus wohnt sie heute in einer betreuten Wohngruppe für junge Frauen. Einmal pro Woche geht sie zu einer Psychotherapeutin. Seit sie nicht mehr ständig übermüdet ist, geht es in der Schule aufwärts: In Mathe hatte sie vorher eine 4, im letzten Zeugnis eine 5–6. In gut zwei Jahren macht sie die Matur. Dann möchte sie am liebsten Medizin studieren.

Mit den Eltern hat Nesrin keinen Kontakt mehr. Zwar schicken sie ihr immer wieder SMS, aber sie antwortet nicht. Sie sagt: «Ich hasse meine Eltern nicht. Aber es ist nicht okay, was sie gemacht haben.» Vielleicht nehme sie in fünf oder zehn Jahren wieder Kontakt auf mit ihnen, vielleicht auch nie mehr: «Jetzt lebe ich mein Leben.»

Mädchenhaus: Das einzige in der Schweiz

Das Mädchenhaus Zürich ist der ­einzige anonyme Zufluchtsort in der Schweiz für Mädchen und junge ­Frauen. Dieses Jahr ­feiert es sein 25jähriges Bestehen. Die Adresse ist geheim, um die Bewohnerinnen zu schützen. Im Haus hat es 7 Plätze, pro Jahr finden rund 50 Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren Unterschlupf.

SPENDEN. Für die Betreuung Minderjähriger ­erhält das Haus Beiträge vom Kanton Zürich. Da es aber auch volljährigen jungen Frauen Schutz gewähren will, ist das Mädchenhaus auf Spenden angewiesen. PC-Konto: 80-21570-5


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