Bärtschi-Post

Die Briefträgerin & der Frauenstreik

Katrin Bärtschi

Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.

Der 14. Juni 2019 ist Geschichte. Er ist Geschichte! Die Briefträgerin hatte in der Bude im Vorfeld nicht gross agitiert und diskutiert. Sie hatte den Ansteckknopf getragen, und sie hatte die Plakate mit der violetten Dreifaltigkeit aufgehängt. Und Flugblätter im Pausenraum verstreut.

Am Montag danach hingen die Plakate noch. Und am Dienstag auch. Und auch bei Redak­tionsschluss immer noch.

Die Violetten lachten einander über alle sonst oft trennenden Grenzen hinweg zu.

GRAD ESO! Der Chef fragte die Briefträgerin: «Wie war’s am Freitag?» Sie antwortete überrumpelt: «Es war genial!» Und dann berichtete sie von barbusigen Amazonen auf dem Traktor, die sie leider nicht live gesehen habe. Nun war der Chef überrascht. «Grad eso?» «Grad eso!» lachte die Briefträgerin. Die Arbeit liess keinen Raum für weitere Gespräche. Später, auf dem Heimweg, gingen ihr noch viel mehr Impressionen durch den Kopf. 70’000 waren in der Stadt Bern gewesen. Junge, selbstbewusste Frauen und alte ebensolche, Bäuerinnen, Kirchenfrauen, Inländerinnen und Ausländerinnen, mit Papieren und ohne. Auch Verhüllte. «Uns braucht man nicht zu sehen, nur zu hören.» So habe eine ihrer Parolen gelautet, erfuhr die Briefträgerin von anderen Kundgebungsteilnehmerinnen. Die Briefträgerin mag keine Kleidervorschriften, egal, von wem sie erlassen werden. Im Beruf mögen sie gelten, sie dienen der Kenntlichkeit und der Arbeitssicherheit. Aber sonst: «Kein offen getragenes Haar!», «Keine Hosen im Sommer!» – solche Sittlichkeitsvorschriften hat sie als Mädchen noch erlebt. Dagegen hat sie gekämpft, dahin will sie nicht zurück.

GENIAL. Der Streiktag war farbig. Die Vielfalt der Frauen sei ihre Stärke, schrie Power-Moderatorin Sandra Künzi ins Mikrophon. Stimmt! Auch auf Plakaten und Transparenten kunterbunte Parolen. «Zusammen sind wir stark!», «writing her story» (ihre Geschichte schreiben), «wherever I go, however I dress: no means no and yes means yes!» (wo auch immer ich hingehe, was auch immer ich anhabe: Nein heisst Nein und Ja heisst Ja!). Und so weiter und so fort. Unerschöpflich, phantasievoll, sprudelnd. Die Violetten lachten einander über alle sonst oft trennenden Grenzen hinweg zu, ein Zwinkern hier, ein Lächeln dort. Vielleicht erzählt die Briefträgerin ihrem jungen Chef bei Gelegenheit mehr davon, egal, ob es ihn nun tatsächlich interessiert oder ob er mit seiner Frage bloss ­einen Mitarbeitendenwertschätzungspraxisbeweis liefern wollte.

Der 14. Juni 2019 war ein genialer Tag. Der 14. Juni 2019 ist Geschichte. Geschichte, die nachwirkt.

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