25 tote Arbeiter jedes Jahr: Termindruck ist lebensgefährlich

Schwarzer Mai auf dem Bau

Jonas Komposch

Allein in den letzten zwei Wochen starben auf Schweizer Baustellen drei Arbeiter. Tragischer Zufall oder gefährliche Tendenz?

AUFPASSEN: Die Arbeit auf dem Bau ist schwer. Drücken die Chefs aufs Tempo, droht Lebensgefahr. (Foto: Keystone)

Es ist Montag, der 13. Mai, als es passiert. Das Team einer Baselbieter Tiefbaufirma ist eben erst aus dem Mittag zurückgekehrt und macht sich wieder an die Arbeit. Auf einer kleinen Baustelle in Riehen BS an der Grenze zu Deutschland soll das Erdreich gesichert und planiert werden. Nun gilt es, eine sechs Meter tiefe Grube mit Beton aufzufüllen. Arbeiter J. G. steht neben dem Erdloch. Da bricht wie aus dem Nichts der Boden unter seinen Füssen ein. G. stürzt in die Grube. Die gelöste Erdmasse verschüttet ihn komplett. Sofort eilt die gesamte Equipe herbei und versucht, den Kollegen mit einem Bagger zu bergen. Vergebens. Mehrere Kubikmeter Erde überdecken den 51jährigen. Als die alarmierte Feuerwehr den Verschütteten schliesslich findet, ist er bereits tot.

Ein Einzelfall ist das Unglück von Riehen nicht. In diesem Jahr sind bereits in Häutligen BE, in Dietschwil SG und in Glatt­felden ZH Arbeiter von Erdmaterial, Geröll oder Sand verschüttet und getötet worden. Und: Bloss wenige Stunden nach dem Unglück in Riehen starb auch in Bern ein Baubüezer (67). Er war in einem Rohbau mehrere Meter in die Tiefe gestürzt. Nur elf Tage später, am 24. Mai, starb ein Mann auf einer Baustelle in Attelwil AG. Er war mit Kranarbeiten beschäftigt, als er plötzlich zwischen zwei Teilen eingeklemmt und erdrückt wurde.

«Der Stress auf dem Bau hat zugenommen.»

ALLE ZWEI WOCHEN EIN TOTER

Erschreckend sind nicht nur diese Einzelschicksale, sondern auch der Fakt, dass dieser Unfallrhythmus fast der Schweizer Norm entspricht. Noch immer verunfallt im Durchschnitt alle zwei Wochen ein Bauarbeiter tödlich (siehe «Arbeitsunfälle: Gefährliche Baustellen»). Und: Seit Jahren hat sich hier kaum etwas verbessert. Im Hochbau nehmen die Todesfälle sogar leicht zu. Und auch die Zahl der schweren Bauunfälle steigt, wie die Unfallstatistik der Suva zeigt.

Für Unia-Bauchef Nico Lutz ist klar: «Der Stress auf den Baustellen hat in den letzten Jahren massiv zugenommen.» So fange der Termindruck heute bereits mit der Auftragsvergabe an. Lutz: «Früher erhielt jene Firma den Bauauftrag, die am günstigsten offerierte. Heute zählt oft nur noch ein möglichst früher Abgabetermin.» Das führe zu völlig unrealistischen Zeit­plänen und gefährlichen Situationen. Aus erster Hand kennt das der Freiburger Maschinenführer und Unia-Baugruppen-Präsident Eric Ducrey. Er sagt zu work: «Das Tempo, mit dem wir mittlerweile arbeiten, ist völlig verrückt, und die Baustellen sind überfüllt.» Zu viele Grossmaschinen seien gleichzeitig im Einsatz, und immer mehr, dafür schlechter ausgebildete Leute drängten sich auf den Bauplätzen. Minipausen und Samstagsarbeit führten zudem zu Übermüdung.

«Wir arbeiten in einem völlig verrückten Tempo.»

NICHT AUFS MAUL HOCKEN

Immerhin gibt es auch eine Tendenz, die Hoffnung macht: Insgesamt sinken auf dem Bau die Unfallzahlen seit Jahren. Das ist ein erfreuliches Resultat langjähriger Anstrengungen von Gewerkschaften, einsichtigen Firmen und Versicherungen. Strengere Sicherheitsregeln und die Sensibilisierung aller Beteiligten zahlen sich jetzt aus. Wichtigstes Glied in der Kette der Sicherheitsfaktoren bleiben aber die Arbeitenden selbst. Sie entscheiden letztlich, ob sie bereit sind, auf einer hektischen oder chaotischen Baustelle zu arbeiten. Von ihnen hängt auch ab, ob sie sich ungesunden Zeitvorgaben beugen oder nicht. Maschinenführer Ducrey ruft daher alle Kollegen auf, gefährliche Forderungen von Vorgesetzten nicht einfach zu schlucken: «Hockt nicht aufs Maul. Wehrt euch!»

Übrigens: Wer bei Gefahr «Stop» sagt und seine Arbeit unterbricht, nimmt ein gut verbürgtes Recht wahr. Ein Recht, das Leben retten kann.


Arbeitsunfälle: Gefährliche Baustelle

Die Schweizer Berufsunfallversicherungen registrieren seit 2008 durchschnittlich knapp 90 Todesfälle pro Jahr. Damit wird die Suva ihr Ziel verfehlen, diese Zahl bis 2020 auf 35 zu reduzieren.

Gebessert hat sich dennoch vieles. Noch in den 1980er Jahren starben fast 200 Menschen jedes Jahr unfallbedingt an ihrem Arbeitsplatz. Heute sinkt die Zahl der Verunfallten stetig. Dazu beigetragen haben nicht nur strengere Sicherheitsvorschriften, sondern auch die Deindustrialisierung und die allgemeine Verlagerung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Ausserdem trägt die Alterung der Bevölkerung zu einer geringeren Unfallzahl bei. Denn junge Berufstätige tragen – etwa aus Erfahrungsmangel – das grösste Verletzungsrisiko.

Jedes Jahr sterben rund 90 Menschen bei Arbeitsunfällen.

INVALIDITÄT. Das Baugewerbe gehört aber nach wie vor zu den gefährlichsten Wirtschaftsbranchen. Im Schnitt verunfallt ein Bauarbeiter alle fünf, ein Gerüstbauer sogar alle vier Jahre. 40 Prozent der Bauarbeiter im Alter von 40 bis 65 Jahren werden invalid. Und im Durchschnitt der letzten 10 Jahre starben jährlich 25 Arbeiter des Hoch-, Tief- und Ausbaugewerbes bei einem Berufsunfall. Das entspricht mehr als einem Viertel aller tödlichen Berufsunfälle.

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