Vor den Europawahlen vom 26. Mai 2019:

Die soziale Frage ist endlich zurück

Oliver Fahrni

Immer mehr Europäerinnen und Europäer nehmen den Zerfall ihrer wirtschaftlichen Sicherheit nicht mehr hin. Das zwingt die Linke zur Selbstkritik.

WIDER DIE FINANZHAIE: Überall in Europa wachsen soziale Protestbewegungen heran. Hier eine Mieter-Kundgebung in Berlin. (Foto: Keystone)

Eine Tote, 5 Hände abgerissen, 23 Augen ausgeschossen und Dutzende zu Krüppeln geschlagen. 9000 Menschen festgenommen, 101 Journalistinnen und Journalisten malträtiert: Seit November 2018 lässt der französische Präsident Emmanuel Macron die sozialen Bewegungen mit extremer Gewalt unterdrücken. Zuletzt traf die Repression die Gewerkschaften am 1. Mai: 158 Verletzte im ganzen Land. Philippe Martinez, Generalsekretär der Gewerkschaft CGT, warf Innenminister Christophe Castaner vor, «ein Klima des Bürgerkrieges» zu schüren.

Trotz Repression zwang die lange Reihe von Revolten und Streiks der Bähnler, der Lehrerinnen, des Pflegepersonals, der Rentnerinnen und Postangestellten, der öffentlich Bediensteten und der gelben Westen den französischen Präsidenten zum Handeln. Im Dezember verkündete dieser «die Verbesserung der Kaufkraft» um 11,5 Milliarden Franken. Jetzt, kurz vor der Wahl des neuen Europäischen Parlaments am 26. Mai, legte er stark nach. 2020 sollen die Haushalte im Durchschnitt über fast 1000 Franken mehr verfügen. Ein wenig Um­verteilung? Nicht wirklich. Macron schiebt den Konzernen und Reichen weiter Mil­liarden zu, will aber die EU-Sparkriterien einhalten. Also schneidet er tief in die so­ziale Sicherheit, in die Renten und in den Service public. Er probt gerade eine neue Regierungsform – den autoritären Neo­liberalismus.

Fremdenfeinde sind dort stark, wo die Linken rechts wurden.

NEUE PROTESTBEWEGUNGEN

Macrons «Kurve in gerader Linie» (der Pu­blizist Laurent Joffrin) zeigt: Die soziale Frage ist zurück. Überall in Europa wachsen Protestbewegungen heran. In Deutschland zuletzt etwa gegen den Mietwucher, aber auch gegen ein Wirtschaftssystem «Exportweltmeister», das mit tief gehaltenen Löhnen massenweise arbeitende Arme schafft.

In Grossbritannien provozieren der massive Rückbau des Service public (Gesundheitsversorgung usw.) und der sozialen Sicherheit nicht nur eine scharf sinkende Lebenserwartung, sondern den täglichen Aufruhr von Hunderten neuer Bürgerbewegungen. Unter dem Druck der Strasse entzweit sich Italiens rechte Regierungskoalition gerade wegen der miesen Ausgestaltung des Grundeinkommens.

Derlei lässt sich aus zahlreichen der 28 EU-Länder berichten. Viele ihrer Bürgerinnen und Bürger nehmen die Angriffe auf ihre Lebens- und Arbeitsformen, auf ihre Löhne und Renten nicht mehr hin. Sie haben mit dem neoliberalen Glaubenssatz gebrochen, es gebe keine Alternative zu Sozial- und Lohnabbau, Privatisierung und Sparhaushalten, ungerechter Steuerordnung und der Vermögenskonzentration.Dieser wachsende Widerstand verschiebt die politischen Verhältnisse. So wird die soziale Frage entscheidend für die Wahlen in etlichen Ländern – auch für die Europawahl Ende Mai.

ADIEU SCHRÖDER 6 CO.

Ein starker Teil der Wahlberechtigen wird sich den 700 aufgelegten Wahllisten verweigern. Ein weiterer Teil äussert die Absicht, für eine ultrarechte, nationalistische Partei einzulegen. In Italien, Polen und Ungarn regieren die Rechtsextremen und Neofaschisten schon, in Spanien ist Vox ­gerade ins Parlament eingezogen, Frankreichs Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen rangiert in den Prognosen an erster Stelle – vor Macrons Partei LREM.

Die Ultrarechten, die früher aus der EU austreten wollten, planen heute, sie von innen auszuhöhlen. Sie werden massiv durch US-Kapital unterstützt.

Der Nationalismus ist die giftige Ausgeburt des Neoliberalismus. Doch in politischer Blindheit analysieren das viele als «Populismus». Das verschleiert nur die Tatsache, dass die fremdenfeindliche Rechte dort zulegt, wo die Regierungslinke, Europas Sozialdemokratien, die neoliberale Zerstörung mitgestalten. Statt ihrem Kernanliegen, der sozialen Gerechtigkeit, zum Durchbruch zu verhelfen.

Erschrocken hat sich jetzt die deutsche Sozialdemokratie von der Agenda ­ihres früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seiner Arbeitsmarktreform Hartz IV abgewendet, die einen riesigen Tiefstlohnsektor geschaffen hatte. Auch Italiens Partito Democratico hat mit dem früheren Premier Matteo Renzi und seiner rabiaten Abschaffung des Arbeitsschutzes und der Rechte der Gewerkschaften gebrochen. Grossbritanniens Labour schliesslich ist schon länger von Tony Blairs Finanzkapitalismus weggekommen.

Längst formiert sich aber auch eine neue Linke (siehe Box unten). Sie stellt die so­ziale Frage wieder radikaler. Und verbindet sie mit dem Ökologieproblem.

Der Ausgang der EU-Wahlen ist ungewiss. Einen kleinen Hinweis könnten aber Frankreichs Gilets jaunes liefern. Seit sechs Monaten protestieren sie jeden Samstag. Migration oder das Geschwafel von der nationalen Identität, mit denen die Nationalisten wuchern, waren in ihren Manifesten nie ein Thema.

Manifest: Die bessere EU

Soziale und ökologische Gerechtigkeit stehen im Zentrum von drei Dutzend Bewegungen und Parteien, die mit ihren Programmen dieser Tage die Politik auf­mischen. Manche, wie Deutschlands «Die Linke», Spaniens «Podemos» oder «La France Insoumise» von Jean-Luc Mélenchon sind gut aufgestellt. Andere, wie die transnationale Bewegung «European Spring», die auf ihrer deutschen Liste mit dem früheren griechischen Wirtschaftsminister Yánis Varoufákis antritt, suchen ihr Publikum. Was sie eint, sind eine ganze Reihe starker Vorschläge, die der Ungleichheitsforscher Thomas Piketty so zusammenfasst: «Ein anderes Europa ist möglich.» Piketty hat ein von 100’000 Personen unterzeichnetes Manifest verfasst, in dem der Ökonom unter anderem eine gerechte Steuerordnung skizziert (www.rebrand.ly/eu-piketty). Die Wüste EU lebt.

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