Bärtschi-Post

Die Briefträgerin & der Spezialtransport

Katrin Bärtschi

Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.

Es ist schon einige Zeit her, also sozusagen verjährt. Deshalb kann die Briefträgerin die Geschichte heute erzählen. Es war bei den grossen Blöcken ­neben dem Supermarkt. Bei denen mit den 50er-Jahre-Kastenanlagen, wo die Briefträgerin mit der Post, die nicht schon von der Maschine vorsortiert wurde, hin und her hastete auf der Suche nach dem richtigen Einwurf. Sie war noch nicht lange auf dieser Tour, und in Häusern wie diesen leben viele Nationen beieinander. Auf den Schildern fremdländische Namen, die Vornamen unterschiedlich, die Familiennamen manchmal mehrmals gleich. Wie Müller oder Streit, nur ­weniger vertraut.

Bei solchen Hochhäusern verbringt die Briefträgerin meist einige Zeit im Hauseingang. Was an jenem Tag angenehm war, denn es regnete wie aus Kübeln. Als sie zurück zum Fahrzeug kam, sprach ein alter Mann sie an. «Meine Einkäufe sind sehr schwer. Würden Sie sie zu mir nach Hause fahren?» Die Briefträgerin stutzte einen Moment. «Wo wohnen Sie denn?» – «Im Altersheim bei den Bahngeleisen.» Die Briefträgerin zögerte, das Altersheim lag ganz und gar nicht auf ihrer Tour. Doch sie zögerte nur kurz. «Geben Sie mir Ihre ­Tasche», sagte sie zum Mann, der strahlend meinte: «Stellen Sie sie einfach beim Empfang hin und ­sagen Sie, sie gehöre Herrn F.»

«In der Tasche war ein Rotweinvorrat und obenauf ein Aktions­paket Schokolade.»

Die Briefträgerin nahm die Tasche, Flaschen klirrten aneinander: Ein Rotweinvorrat und obenauf ein Aktionspaket Schokolade. Die Briefträgerin montierte ihren Helm und fuhr los in Richtung Altersheim. Den Zeitscanner der Post hatte sie nicht auf «Kurzpause» eingestellt. Sie deponierte die Einkäufe beim Empfang. «Für Herrn F.», sagte sie, und die Frau am Schalter fragte verdutzt: «Ist das eine neue Dienstleistung der Post?» – «Heute schon», antwortete die Briefträgerin, verabschiedete sich, fuhr zurück und setzte ihre Tour fort.

DER CLOU. Zwei Tage später sprach eine Frau sie vor dem Supermarkt an: «Ich habe kürzlich gesehen, wie Sie einem ­alten Mann die Einkäufe abnahmen. Hier haben Sie einen Fünfliber, gehen Sie Kaffee trinken.» Das war der Clou der Geschichte, denkt die Briefträgerin und lacht, als sie sich erinnert, wie sie zum Restaurant fuhr, «Kurzpause» eintippte, ­einen Kaffee bestellte, sich zurücklehnte und durch das Fenster auf den Platz vor dem Supermarkt schaute.

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