Europawahlen: Die Analyse von work-Autor Oliver Fahrni

Bizarres neues EU-Parlament

Oliver Fahrni

28 Nationen haben ein neues europäisches Parlament gewählt. Und das kam dabei heraus.

GRÜNER TRIUMPH: Die Klimakatastrophe bringt den Grünen einen hohen Stimmenanteil. Hier feiern die belgischen Grünen, Ecolo/Groen. (Foto: Getty)

Rechtsradikale und Nationalisten jubeln. Auch die Grünen legen stark zu. Hingegen schmelzen die grossen Parteien, die Sozialdemokraten wie der Bürgerblock, weiter ab. Alles klar? Ein zweiter Blick zeigt: In Strassburg wird ab Juli ein Haus der Paradoxe politisieren.

  • Die harte Rechte: Kaum 18 Monate ist es her, da wollten die rechten Nationalisten wie Frankreichs Marine Le Pen oder Italiens Matteo Salvini raus aus Euro und EU. Jetzt drängen sie mit Macht rein. Und avancierten in ihren Ländern zur stärksten Partei. Und wären Europas Ultrarechte nicht so zerstritten, etwa über ihr Verhältnis zu Russlands Präsident Wladimir Putin, könnten sie mit rund 170 Abgeordneten (von 751) vielleicht die grösste Fraktion im EU-Parlament stellen. Mancherorts ­haben sie ähnlich hohe Stimmenanteile erreicht wie ihr Vorbild SVP (2015: 29,4 Prozent). Salvini machte mit der Lega gar 34 Prozent. Noch mehr schaffte nur Ungarns Viktor Orbán, der von der EU für sein antidemokratisches Regime gerügt wird: er holte die absolute Mehrheit. Dennoch ist die Machtübernahme der Rechtsextremen, die etwa der französische Präsident Emmanuel Macron seinem Publikum an die Wand malte, vorerst abgesagt. Denn Österreichs FPÖ floppte, die deutsche AfD blieb bei 11 Prozent hängen, Spaniens Vox bei 6,5 Prozent, Hollands Geert Wilders versank in der Bedeutungslosigkeit. die «Wahren Finnen» sackten ab. Kein Wunder, denn das einzige Thema der Rechten, die Migrationskrise, interessiert nicht mehr.
  • Grossbritannien: Sogar die aus der EU austretenden Briten wählten. Mit dem Brexit wollten sie Grossbritannien stärken. Nun zeigen die Wahlergebnisse in Schottland, dass das Königreich bei ­einem Brexit in drei Staaten zerfiele. Die EU steht fester denn je. Die Frage ist nur: für welche ­Politik?
  • Die Grünen: Die Klimakatastrophe und andere ökologische Desaster haben die Grünen beflügelt. In Deutschland wurden sie mit 21 Prozent zweitstärkste Partei hinter der CDU, in Frankreich erstaunliche Dritte. Problem: Sie existieren nur im westlichen Teil Europas. Also werden sie mit höchstens 79 Abgeordneten (etwas mehr als 10 Prozent) in Strassburg einziehen.Viel zu wenig, gemessen an der Mobilisierung der Jugend, viel zu wenig für ein entschiedenes ökologisches Umsteuern. Sie brauchen Verbündete. In der neuen Mitte, die der neoliberale Macron zu bauen vorgibt? Kaum. Mit der SP? Die bandelt gerade mit Ma­crons Truppe an. Bleiben die Linken und ihr New Green Deal. Frankreichs Grüne würden ja gerne, die Deutschen weniger.
  • Soziale Wende: Das andere entscheidende Thema für die Zukunft des Kontinents ist die Wende zur sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit. Es brennt an ­allen Ecken. Doch mehr als zwei Drittel der neuen Abgeordneten huldigen dem Abzocker-Kapitalismus. Und da sind die Sozis, die bisher den neoliberalen Umbau Europas mitgetragen haben, hoffnungsvoll nicht eingerechnet. Ohne Wenn und Aber stehen wohl weniger als 100 der neuen Abgeordneten für ein soziales Europa ein.

ANSTÖSSE AUF DER STRASSE

So hat eine demokratische Wahl durch 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger und mit einer hohen Wahlbeteiligung also ein Parlament hervorgebracht, dass die tiefen Veränderungen der europäischen Gesellschaften nicht abbildet. So viel ist klar: Die Anstösse für die soziale und ökologische Wende müssen von aussen kommen. Von den Gewerkschaften. Und von der Strasse.


Weitere Artikel zum Thema:

1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Das blöde Volk hat also wieder mal falsch gewählt. Zu dumm auch. Wie hiess der Spruch doch noch? „Dann wählt sich die Regierung (der Ideologe, die Aktivistin, der Journi mit Haltung) halt…“ nein? Zu abgedroschen? Stimmt. Neuer Versuch: „Die Anstösse müssen von aussen kommen.“ Na klar doch! Delegitimation statt Abwahl. Auch eine Möglichkeit. Maduro hat’s vorgespielt. Anstösse aus der verfassungsgebenden Versammlung. Vielleicht brüllt ja die Frau Nahles noch einen Anstoss rein; hat je Zeit jetzt. Von der Strasse. Mais oui!

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.