Willy Scherz, Verdingbub, Koch & Cowboy:

«Ich stehe immer wieder auf. Das nervt sie.»

Christian Egg

Er wurde verstossen, vergewaltigt und verhaftet. Und trotzdem ging er seinen Weg. Darauf ist Rentner Willy Scherz heute stolz.

AM THUNERSEE: Das Schicksal hat Willy Scherz gezeichnet, aber nicht gebrochen. (Foto: Matthias Luggen)

Ein Sonntagmorgen im Sommer 1957. Der 6jährige Willy Scherz und seine vier Geschwister warten aufgeregt vor dem Haus der Grosseltern. Heute dürfen sie mit dem Vater eine Spritzfahrt machen. Zwar ist er kein guter Vater. Er säuft, schlägt die Kinder und die Mutter, verjubelt das Geld im Puff. Die Familie hat kaum etwas zu essen. Aber er ist eben doch der Vater.

Was jetzt passiert, brennt sich für immer in Willys Gedächtnis ein: Der Vater fährt im neuen Chevrolet Cabriolet vor. Die Geschwister klettern ins Auto. Als Willy auch einsteigen will, sagt der Vater: «Du nicht! Du bist nicht von mir. Geh zu deinem Alten.» Zeigt auf den Grossvater und fährt weg.

IM HUNDEHAUS VERSTECKT

Bis heute weiss Willy Scherz nicht mit Bestimmtheit, wer sein Vater ist. Er ist jetzt
68 Jahre alt, weisser Bart, Brille, Stetson-Cowboyhut. work trifft ihn in Leissigen im Berner Oberland. Er sagt: «Hier oben kenne ich fast jeden Stein.» Einen Sommer lang hütete er auf einer Alp die Kühe. Überhaupt, mit den Tieren konnte er es immer gut: «Die haben mich nie weggeschickt.»

Anders als die Menschen. Als Willy fünf oder sechs ist, genau weiss er es nicht mehr, bringen ihn seine Eltern nach Bern, in die Obhut der Grosseltern. Die Mutter sei überfordert gewesen mit den fünf Kindern, vermutet er heute. Der Grossvater kümmert sich liebevoll um Willy, der Bettnässer ist. Aber die Grossmutter schlägt ihn und will ihn nicht. Hinter dem Rücken des Grossvaters sorgt sie dafür, dass der Bub einen Vormund bekommt und abgeholt wird. Willy versteckt sich den ganzen Tag im Hundehaus. Erst der Grossvater, der am Abend nach Hause kommt, ahnt, wo er den Bub suchen muss.

Ein paar Tage später wird der Erstklässler frühmorgens von der Polizei abgeholt, kommt ins Heim, später in eine Pflegefamilie nach St. Gallen. Mit neun Jahren kommt er ins Evangelische Erziehungsheim Hochsteig im Toggenburg. Am Morgen geht er zur Schule, am Nachmittag ­arbeitet er in der Landwirtschaft. Als Gratisknecht.

Er vermisst seinen Grossvater und seine Geschwister. Das sei überhaupt das Schlimmste gewesen, sagt er: «Heimweh zu haben nach den eigenen Leuten, obwohl sie mich verstossen haben.» Dreimal haut er ab und geht zu Fuss vom Toggenburg bis nach Bern. Dreimal wird er geschnappt, immer fünfzig Meter vor dem Haus des Grossvaters. Die Polizisten wussten, wo er hinwollte.

VERGEWALTIGUNG IM KLOSTER

Mindestens zehn Heime habe er von innen gesehen in seiner Jugend, erzählt Scherz. Es sind keine schönen Erinnerungen. Auch nicht ans Kloster: «Ein Klosterbruder holte mich dort eines Nachts um Mitternacht aus dem Bett. Dann vergewaltigte er mich auf dem Küchentisch. Da war ich elf Jahre alt.» Als er den Missbrauch dem Hausvater meldet, glaubt der ihm nicht: Das könne nicht sein, sagte dieser. Der Bruder sei doch «ein ehrenwerter Mann».

Auch später wird er sexuell ausgenutzt und schikaniert. Mit 18, kurz nach seiner Lehre als Koch, kauft Willy Scherz ein Zugbillett und will von Winterthur nach St. Gallen zu seinem Pflegevater. Im Zug verhaftet ihn die Polizei und bringt ihn im Arrestabteil nach Bern, er weiss nicht, warum. Dort wird er seinem Vormund vorgeführt – der hatte ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Nur weil er seine aktuelle Adresse wissen wollte. Dann lässt er ihn wieder ziehen.

Aber Geld für die Rückfahrt gibt’s nicht. Scherz erzählt: «Der Beamte am SBB-Schalter sagte mir: Geh doch zur Schanze neben dem Bundeshaus.» Dort verspricht ihm ein Mann Geld. Aber er nötigt ihn zum Sex, bevor er ihm 50 Franken gibt. «Ich bin dann nicht mehr zum Pflegevater. Ich habe mich geschämt.»

Mit 21 Jahren ist er endlich die Vormundschaft los. Und arbeitet mal als Kutscher, als Alphirt, Traktorfahrer, Zügelmann, Kranführer, Rangierarbeiter. «Ich war mir nie zu schade zum Arbeiten», sagt er. Und er lernt schnell. In der Schule hatte er zwar Mühe, weil er Legasthenie hat. Aber mit 16 Jahren wurde er psychiatrisch abgeklärt. «Da ist nichts herausgekommen, ausser dass ich einen IQ von 143 habe.»

Video-Porträt: Willy Scherz, Verdingkind from Matthias Luggen on Vimeo.

SIE SAGTEN IHM «VAGANT»

Willy Scherz wird mehrmals verhaftet und landet im Gefängnis. Wegen Fahrens ohne Ausweis, wegen Schlägereien. Zwei davon mit Polizisten, die ihn als «Vagant» beschimpften. «Das muss ich mir nicht austeilen lassen», sagt er. In der Jugend sei ihm eingebleut worden: Aus dir wird nichts, du bleibst ewig ein Versager. Scherz will beweisen, dass es nicht so ist: «Ich habe immer für meinen Lebensunterhalt gesorgt.»

Willy Scherz erzählt seine Geschichte nicht im Jammerton. Sondern mit Stolz. Dass er heute sein Leben so lebt, wie er will: «Alle wollten mich zu einem 08/15 machen, aber das bin ich nicht. Sie haben mir immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen. Aber ich stehe jedesmal wieder auf. Und das nervt sie.»

In den 1970er Jahren trampt er nach Hamburg, heuert auf einem Schiff als Koch an. Nach fünf Jahren steigt er in Miami aus und lebt ein paar Jahre in den USA. Zuerst als Cowboy, dann als Lastwagenfahrer.

Zurück in der Schweiz, kassiert er seine längste Gefängnisstrafe. Wegen Sex mit einem Minderjährigen. Seinem damaligen Freund. Scherz erzählt: «Es war zwei Tage vor seinem 16. Geburtstag. Seine Mutter zeigte mich an.» Zwei Jahre sitzt er in der Strafanstalt Le Landeron im Berner Seeland. Verstanden hat er es bis heute nicht: «Wenn ich mit meinem Freund schlafe, beide sind schwul und beide wollen es, dann bin ich ein Verbrecher. Aber wenn mich ein Klosterbruder vergewaltigt, ist er ein ehrenwerter Mann.»

KAFFEE IM GLAS

In der Jugend haben sie ihm zweimal Drogen in ein Getränk getan. Seither will Willy Scherz sehen, was er trinkt. Er bestellt einen Kaffee – im Glas. Selber hat er nie Drogen genommen, auch keinen Alkohol: «Ich wollte nicht werden wie mein Alter.»

Heute lebt er von der AHV. 600 Franken pro Monat, plus Ergänzungsleistungen (EL) für die Miete und die Krankenkasse. Ab und zu hilft er irgendwo im Garten, macht einen Transport oder kümmert sich um ein schwieriges Pferd. «Trotzdem bin ich ab Mitte Monat immer stier.» Er rückt den Stetson auf dem Kopf zurecht und zündet eine Marlboro an.

Letztes Jahr hat er 25’000 Franken bekommen. Als Solidaritätsbeitrag für die Opfer von Zwangsmassnahmen (siehe unten). Die AHV-Stelle zitierte ihn aufs Büro. Jetzt habe er ja Geld bekommen, da brauche er keine EL mehr, hiess es. Aber Scherz wehrte sich: «Erstens steht in dem Brief, das Geld sei unantastbar. Zweitens habe ich denen gesagt, ich habe das Geld schon für ein Auto gebraucht.» Das stimmte nicht. Aber kurz darauf kauft er sich tatsächlich einen neuen Pickup-Truck. Er grinst. Sicher ist sicher.


Heim- und Verdingkinder Die Aufarbeitung läuft

Es ist eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Schweiz: Bis in die 1980er Jahre ­sperrte die Schweiz ­Hunderttausende Heim- und Verdingkinder weg, misshandelte und erniedrigte sie.

Ihre Leidens­geschichte wird jetzt aufgearbeitet. Seit 2017 läuft die historische Aufarbeitung durch den Schweizerischen Nationalfonds. Laut Schätzungen leben heute noch zwischen 15’000 und 20’000 Opfer. Rund 9000 von ihnen beantragten letztes Jahr den Solidaritätsbeitrag des Bundes von 25 000 Franken. Warum so wenige? Das ehemalige Heimkind Robert Blaser sagte damals der Zeitung «Bund»: «Für viele ist die Obrigkeit – Staat und Kirche – in der Täterrolle. Und viele konnten nicht verstehen, warum der ‹Täter› ihnen Geld geben wollte.» Viele Be­troffene hätten ­einen Abwehr­reflex gegen alles Behördliche.

BUCHREIHE. Ihre Arbeit bereits abgeschlossen hat die Expertinnen- und Expertenkommis­sion zu den «administrativen Versorgungen». Menschen wurden ohne Gerichtsurteil in ­Anstalten oder ­Gefängnissen ein­gesperrt, weil sie arm oder randständig waren oder nicht den moralischen Vorstellungen entsprachen. Man ­strerilisierte sie und zwang sie zur Abtreibung.

Soeben erschienen ist ein Band mit ­Portraits von Betroffenen. Neun Bände zu weiteren Themen sind bis September geplant. Parallel dazu tourt eine Wanderausstellung durchs Land.

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