Jean Ziegler zum 85. Geburtstag

Ein Ziegler ist ein Ziegler ist ein Ziegler

Marie-Josée Kuhn und Oliver Fahrni

Seit 15 Jahren ist Jean Ziegler work-Kolumnist. Zu seinem 85. Geburtstag erhält er jetzt ein Buch. Hier die Beiträge von Chefredaktorin Marie-Josée Kuhn und work-Korrespondent Oliver Fahrni in voller Länge.

JEAN ZIEGLER: «Ich finde es gut, den Gottesdienst zu stören.» (Foto: Nicolas Righetti / Lundi 13)

von Marie-Josée Kuhn

Am anderen Ende der Leitung tönt Zieglers kehlige Stimme, dieses unverkennbar langgezogene: «Sälüüü!», diese frankofizierte Thunerie. In der Selve-Stadt Thun kam Hans Ziegler schliesslich zur Welt. Und dort hat er viel gelernt: «Wenn die Selve-Arbeiter mit ihren Velos und Gamellen kamen und am Abend Frau Selve, die Alleinbesitzerin, mit dem Packard wegfuhr, da habe ich gespürt, dass etwas in dieser Stadt nicht klappt.» Das war vor 72 Jahren. Dann zog es Ziegler aus der engen in die weite Welt hinaus.

DER FENSTERÖFFNER

New York, Paris, Algier, Havanna, Berlin: Ziegler ist stets unterwegs. Und in seinen Auftritten, Interviews und Büchern zieht er uns mit: ins verdunkelte Klassenzimmer der Schule von La Higuera, einem kleinen Dorf in den kargen Bergen des südlichen Bolivien. Nach Deir Yassin, einem palästinensischen Dorf im Nordwesten von Jerusalem. Ins Café Les Deux Magots auf dem Boulevard Saint-Germain in Paris. In den Völkerbundpalast und ins Flugzeug von Ciudad de Guatemala nach Mexiko: «11’000 Meter über dem Dschungel von Chiapas.» Jean Ziegler ist unser Fenster zur Welt. Ein Fensteröffner. Seit fünfzehn Jahren ist er auch der Fensteröffner von work. Mit seiner Kolumne ‹La Suisse existe›.

Und während wir Ziegler lesen und hören, schrumpft die Schweiz und wächst die Welt. Er kannte sie alle: Comandante Che Guevara, Fidel Castro, Mário Soares, Thomas Sankara, Hugo Chávez, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Sartre hielt den jungen Hans zum Schreiben über Afrika an. Und Beauvoir gab ihm einen neuen Vornamen. Mit rabiater Hand redigierte die Philosophin einst den ersten Ziegler-Text. Sie strich in der Autorenzeile den ‹Hans› und machte ‹Jean› daraus. «Hans ist doch kein Name!», sagte sie.

So trieb es Jean als UN-Experten erst mal in den Kongo. Und was er dort sah, veränderte sein Leben: «Die UNO-Leute waren in einem Hotel in Kalina stationiert, das mit Stacheldraht eingezäunt war. Jeden Abend haben die Köche die Essensreste auf die Stacheldrahtrollen gekippt, und aus der Stadt kamen halbverhungerte Kinder, Frauen und Männer und haben versucht, diese Essensreste vom Stacheldraht wegzukratzen, wurden aber von den Wachsoldaten mit Gewehrkolben vertrieben. Ich habe das gesehen und mir geschworen: Was immer passiert, ich werde nie mehr auf der Seite der Henker stehen.»

Ziegler sei ein weisser Schwarzer, sagte einst ein Freund von ihm. Stimmt, sagt er selber, er habe von Afrika viel gelernt. Und: «Ihr Weisse, die ihr nur 13 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, hört endlich die Klagen des Südens.» Und dann öffnet Ziegler das Fenster. Wir sollen hinschauen und begreifen: «Die Strasse ist gesäumt mit Leichen, aber sie führt zur Gerechtigkeit.» Das ist zwar nicht von Ziegler, sondern vom französischen Sozialisten und Historiker Jean Jaurès. Aber es ist Zieglers Mission. Sein Mantra. Sein Optimismus des Willens.

DER WETTERMACHER

Wie ein Tsunami schiessen sie über seine Lippen: die Zahlen über die Ungerechtigkeit. Die Zahlen über die Unmenschlichkeit, über das «tägliche Massaker».

Hunger: «Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37’000 Menschen verhungern jeden Tag.» Das sei «organisierter Massenmord», sagt der einstige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, denn Nahrung gebe es genug.

Armut: «Schon 2010 beherrschten nur 500 Konzerne rund 54 Prozent der Weltwirtschaftsleistung.» Es fliesse mehr Geld von der armen Welt in die reiche als umgekehrt.

Krieg: «32 sogenannte Low Intensity Wars toben derzeit weltweit. Das sind Kriege mit weniger als 10’000 Toten pro Jahr. Weltweit sterben in diesen Kriegen also jedes Jahr Hunderttausende.» So Ziegler zu den Offshore-Waffen-Blutdiamanten-Paradiesen.

Wie kann sich Ziegler all die Zahlen bloss merken? Er braucht sie, sie sind die Macht des Faktischen in seiner epischen Erzählung. Die Zahlen halten ihn im Zaum. Dann nämlich, wenn er wieder mal gegen Geldsäcke und Halunken, gegen Profithaie und Nazihorden und gegen Blutgeld und Kerker kämpft. Gegen den «Banken-Banditismus», «Raubtierkapitalismus» und gegen die «Wegelagerer der Zürcher Bahnhofstrasse». Ziegler, der bunte Marxist, der Protestant blieb und Katholik wurde, hat eine biblische Sprachgewalt. Bilder von alttestamentarischem Furor bevölkern seine Sätze. In Zieglers Universum toben Schmach und Schande, Gut und Böse, Himmel und Hölle: Da «zeigt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey Mut und Weitsicht» und tritt gegen «die Höhlenbewohner der SVP» an. Zum Beispiel.

Zieglers Trottoirs sind nicht einfach Trottoirs, sie sind «vom Regen durchnässt». Es ist Nacht, schwarze Nacht, pechschwarze Nacht. Bei Jean Ziegler ist immer (Un-)Wetter: es schneit, es stürmt, es sonnt. Etwa das Ziegler-Wetter im Februar 2002: «Es war ein trüber, dunkler Februarabend: die letzte grosse Veranstaltung im hitzigen Abstimmungskampf über den Beitritt der Schweiz zu den Vereinten Nationen.» Oder das Ziegler-Wetter im August 1941: «Der Sturm schüttelte das amerikanische Kriegsschiff USS Augusta. Es kreuzte vor der Küste von Neufundland. An Bord: US-Präsident Franklin Delano Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill.»

DER HANSDAMPF

Mit dem Wetter macht Ziegler Stimmung. Und Spannung. Nach dem ersten Satz zappeln wir schon an seinem Haken. Ziegler, der Dramatiker. Ein Pinselstrich – und schon sind wir mitten in einem Krimi: «Der Jeep kam meist gegen Mitternacht. Mit zwei, drei Genossen vom Sicherheitsdienst ging die Fahrt zu einem mir stets unbekannten Ort – einer Privatwohnung, einer Armeebaracke, einem anonymen Verwaltungstrakt – irgendwo in Havanna.» Sitzen wir mitten in einem Thriller: «Die Genfer Kantonspolizisten kamen im Mannschaftswagen. Bewaffnet. Sie stürmten die Grundschule des kleinen Dorfes Compesières GE und führten die vier Kinder einer grossbürgerlichen, traditionsreichen Genfer Familie ab.» Sitzen wir mitten in einem Politroman: «Der Nachtzug aus Paris kam um 6.30 Uhr im Genfer Bahnhof Cornavin an. Es gab damals, im Februar 1974, noch keinen TGV. Ein todmüder, freundlich lächelnder Exil-Portugiese kam mir in einem abgewetzten Mantel entgegen.»

Und dann? Was geschah dann?, japsen wir. Die Menschen seien nicht von Vernunft beherrscht, sondern von Emotionen und Obsessionen, sagt Ziegler: «Ich muss aufpassen, dass mich die Emotionen nicht forttragen.» Darum lieben ihn so viele. Auch viele Junge. Er nimmt sich die Welt zur Brust, eine inzwischen selten gewordene Qualität. Ziegler hat Fans wie ein Popstar. Sie lieben ihren Verteidiger, ihren Hansdampf. Sie verehren ihn, weil er sich traut. Mit Prozessen wollten die von ihm vorgeführten Banken und Geldsäcke den «Nestbeschmutzer» stoppen, doch Ziegler empört sich noch immer. Und er ruft uns zu: »Empört euch auch!«

Etwa über FDP-Bundesrat Ignazio Cassis. Ziegler: «Man muss kein Genie sein, um als Bundesrat zu amten. Aber ein Minimum an politischer Vernunft und Bildung wäre hilfreich. Cassis besitzt weder das eine noch das andere.» Oder über die Berichterstattung von SRF über Lenin: «Was die Hellseher vom Zürcher Leutschenbach als ‹Putsch› bezeichnen, war eine Revolution, die die Welt grundlegend und für immer verändert hat. Die heute lebenden Westeuropäerinnen und Westeuropäer verdanken den sowjetischen Völkern unendlich viel. Über 6 Millionen starben bei ihrem Sieg über die Nazihorden. In der Dritten Welt gibt es wohl keine nationale Befreiungsbewegung, die ihr kolonisiertes Land ohne sowjetische Waffen und diplomatische Unterstützung hätte befreien können.» Oder über die Schweiz. Ziegler: «Die Schweizerinnen und Schweizer sind keine Schafsköpfe. Im Gegenteil: Sie sind wahrscheinlich das politisch höchstgebildete Volk in Europa. Auf meiner Weltrangliste kommen sie gleich hinter Kuba. Und trotzdem stimmen sie bei freien, geheimen Volksabstimmungen mit schöner Regelmässigkeit gegen ihre ureigensten Interessen.»

DER GOTTESDIENSTSTÖRER

Die Vernunft zwinge ihn dazu, weiterzumachen, sagt Ziegler. Er sei ein Privilegierter unter Privilegierten. «Daher gilt es, jeden Tag ein Maximum an Sinn, Gedanken, Wörtern und Handlungen hervorzubringen, damit das Bewusstsein dem Nichts im Augenblick des Todes ein Höchstmass an Sinn entgegenzusetzen hat.»

«Gopferdeckel», sagt er: «Ich finde es gut, den Gottesdienst zu stören.» Sei’s auch beim Thema Tod. Fragte ihn eine Radio-Frau in einem Interview: «Was denken Sie denn über den Tod?» Und Ziegler sagte: «Ein absolutes Skandalon, das werde ich nie akzeptieren!» Und die Radio-Frau: «Wie, Herr Ziegler, wie meinen Sie das, den Tod nicht akzeptieren? Wir alle müssen doch sterben!» Und er: «Das ist aber noch lange kein Grund, den Tod auch zu akzeptieren. Er ist inakzeptabel, der grösste Skandal!» Und sie: «Ja, aber man muss doch einfach sterben.» Und er: «Verstehen Sie denn nicht, wenn ich schon sterben muss, muss ich das doch lange noch nicht akzeptieren?» Ein Ziegler ist ein Ziegler ist ein Ziegler. Unverwüstlich.

PS: Klar macht Jean Ziegler auch hin und wieder Mühe. Als Narziss und als Primadonna: Wenn frau an seinen Texten auch nur einen Buchstaben redigiert, etwa aus Platzgründen, ist das für ihn «Zensur» und «Pfuscherei». Meistens: «üble Pfuscherei!». Dann kann er ausrufen wie ein Wald voll Affen. Und im nächsten Augenblick ist er wieder ganz Zuckerbäcker: heiss, kalt oder umgekehrt. Das macht die Zusammenarbeit nicht ganz einfach, aber umso spannender.

Alle Zitate stammen aus Interviews und Auftritten in verschiedenen Medien, vor allem aber aus Zieglers work-Kolumne ‹La Suisse existe›.

Das Buch zum 85.

Eine illustre Schar von Autorinnen und Autoren haben die Herausgebenden Roland Herzog, Franco Cavalli, Margret Kiener Nellen, Edi Lehmann Silva Lieberherr und Ueli Mäder, Hans Schäppi und Walter Suter da zum Schreiben über Jean Ziegler gebracht. Kein Wunder, gibt es über ihn ja auch ganz viel zu sagen: über den wohl bekanntesten und angefeindetsten Schweizer Ziegler; über den beherzten und renommierten Kapitalismus-, Banken- und Globalisierungskritiker Ziegler; über den späteren Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Ziegler usw.

UNABDINGBAR. Zum Beispiel über sein 1976 veröffentlichtes Pamphlet gegen den Finanzplatz Schweiz
«Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben», mit dem er für helle Aufruhr sorgte. Dem Verhältnis Zieglers zur Schweiz und zum Schweizer Finanzplatz geht der Soziologe und Historiker Koni Weber nach. Peter Maurer, Präsident des Interna­tionalen Komitees vom Roten Kreuz, fragt sich, was von einer vierzig­jährigen Bekanntschaft mit Ziegler bleibe. Jakob Tanner, emeritierter Geschichtsprofessor, diskutiert den Befreiungsnationalismus von Jean Ziegler. Pierre-Yves Maillard, neuer SGB-Präsident, analysiert Zieglers Verhältnis von Reform und Revolution. Und work-Autor Oliver Fahrni begründet, warum Ziegler gerade im Zeitalter des autoritären Neoliberalismus so unabdingbar für uns ist. Das sind nur 5 von (leider vor allem männlichen) 27 Schreibenden.

SPANNENDE EINBLICKE. Auf 264 dicht beschriebenen Seiten schenkt uns das Geburtstagsbuch sehr unterschiedliche und spannende Einblicke in Zieglers Denken, Leben und Wirken, die sich gut auch als Häppchen lesen lassen. Schmökern lohnt sich! Die beiden Vorworte zeichnen Ex-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey und Onkologe und Politiker Franco Cavalli.

«Jean Ziegler – citoyen et rebelle. Der lange Weg von Thun nach Genf pour un monde plus juste», Verlag Edition 8,
CHF 23.–.


Im Wärmestrom linken Denkens

von Oliver Fahrni

Es muss eine sternenklare Nacht gewesen sein, als wir am 26. September 1990 auf der Hoggar aus dem Hafen von Barcelona ausliefen und Kurs auf Alger nahmen. Kein anderes Wetter wäre der Legende angemessen. Man hatte uns eine historische Stunde versprochen. Und da war die aufregende algerische Journalistin Leïla Marouane.

Jean Ziegler schlenderte über Deck. An der Reling diskutierte Otelo Saraiva de Carvalho, Anführer der portugiesischen Nelkenrevolution, mit ein paar Kubanern, Gefährten des Che, Befreiungskämpfern aus Angola und Guinea-Bissau, italienischen Operaisten und griechischen Kommunisten. Es ging das Gerücht, auch ›Pablo‹ sei an Bord, der geheimnisumwobene Sekretär der Vierten Internationale, Kopf der nach ihm benannten ‹pablistischen› Trotzkisten. Von ihm gab es nur verschwommene Fotos. Und eines mit Gewehr.

Otelo war in schlechter Verfassung, nach langen Jahren im Gefängnis. Er winkte Ziegler zu. Im April 1974 hatte der Aufstand der Offiziere unter seiner Führung das diktatorische Regime in Lissabon gestürzt und den portugiesischen Kolonialkriegen in Mosambik, Angola, Guinea-Bissau und auf den Kapverden ein (spätes) Ende gesetzt. Seine Dienstzeit in Afrika hatte ihn zum Rätekommunisten geläutert. Eine Lichtgestalt der 1970er Jahre. Bei mir hing er als Poster, und es liefen die melancholischen kapverdischen Kampflieder der Befreiungsorganisation PAIGC. Nach dem 25. April 1974 hatte die COPCON, seine Truppe, das neue Portugal gegen die Konterrevolution verteidigt, bis die ‹Normalisierung› Portugals unter kräftiger Beteiligung der sozialdemokratischen Internationale (vorab der deutschen Sozialdemokratie) dem Traum ein Ende setzte. Otelo wurde beschuldigt, die bewaffnete Organisation FP-25 anzuführen. Erst sechs Jahre nach unserer Schiffsreise sollte er rehabilitiert werden.

Unter einer Decklampe machten sich Algerier, Palästinenser, Spanier und ein französischer ‹Kofferträger› des Algerienkriegs über einer Protestnote zu schaffen. Madrid hatte den Gesandten einer palästinensischen Befreiungsorganisation die Einreise nach Barcelona verweigert. Ahmed Ben Bella gesellte sich zum Kreis. Eine hohe, markante Figur, harte Furchen im Gesicht. Zohra begleitete ihn, Zohra Sellami, die Journalistin und Pasionaria afrikanischer Emanzipation. Er hatte 1972 aus dem Kerker heraus um ihre Hand angehalten.

Es war Ben Bellas Nacht. Für seine Rückkehr aus dem Exil hatte er auf die Hoggar eingeladen, was die Welt 1990 an Antiimperialisten und Befreiungskämpfern kannte. Einige waren ihm seit den sechziger Jahren verbunden. Ben Bella war einer der neun historischen Chefs des revolutionären Komitees CRUA gewesen, aus dem die algerische Befreiungsfront FLN hervorging. Im Zweiten Weltkrieg hatte der Bauernsohn und Ex-Fussballer noch in der französischen Armee gekämpft, nach Monte Cassino von General de Gaulle mit einem Orden behängt. Der Bruch kam am Waffenstillstandstag, am 8. Mai 1945, als die französischen Kolonialisten mit Hilfe von Armee und Marine in Sétif und Guelma mehrere Tausende algerische Zivilistinnen und Zivilisten massakrierten. 800’000 Tote zählten die Algerierinnen und Algerier am Ende des Befreiungskrieges 1962. Ben Bella, Panarabist und Anhänger des Ägypters Gamal Abdel Nasser, wurde der erste Präsident des befreiten Landes, 1965 putschte ihn sein Vize Houari Boumédiène weg, als sich Ben Bella in Oran ein Fussballspiel ansah, 1981 entliess man ihn ins Exil.

Ein anderer historischer Kopf der algerischen Revolution, Hocine Aït-Ahmed, lebte damals schon in der Schweiz, und der aktuelle Präsident Algeriens, der heute siechende Abdelaziz Bouteflika, war hin und wieder in Zieglers Vorlesungen anzutreffen.

Das befreite Alger war »das Mekka der Revolutionäre«, lesen wir bei Amilcar Cabral, dem kapverdischen Befreier von Guinea-Bissau, und es war ein Leuchtturm der Bewegung der Blockfreien. Ben Bella trieb die Landreform sowie die Nationalisierung von Schlüsselindustrien und Banken, von Gas und Öl voran, Pablo zählte zu seinen Beratern. In Alger wurden die antikolonialen Kämpfe Afrikas koordiniert. Che Guevara brach in einer berühmten Rede auf der Afroasiatischen Solidaritätskonferenz in Alger 1965 mit der Sowjetunion.

Radio Alger hat damals bei mir erste politische Emotionen geweckt. Glückliche Momente des Zehnjährigen mit seinem kleinen Transistorempfänger, heimlich unter der Bettdecke gehört, wenn auf der Frequenz von Radio Beromünster um Mitternacht, nach der Nationalhymne zum Sendeschluss, Radio Al-Jaza’ir hochkam. In Alger konnte man Nelson Mandela begegnen, Malcolm X, El Mehdi Ben Barka, Samora Machel, vielen anderen. Und Jean Ziegler. Abgesandte von Befreiungsbewegungen reisten mit gut gefüllten Geldkoffern zurück.

An diese Zeit wollte Ben Bella nun anknüpfen. Seine Rückkehr sollte die glorreiche Wiederkunft eines Nationalhelden werden, hatten ihm seine Berater von der ‹Bewegung für Demokratie in Algerien› (MDA) suggeriert. Er werde Algerien ein zweites Mal befreien, diesmal von der FLN-Junta, die im Oktober 1988 die arbeitslose, protestierende Jugend in Alger mit Maschinengewehren niedergemäht hatte. Ein junger Mann mit randloser Brille sagte zu Ben Bella: «Sie erwarten dich. Du bist ihre Hoffnung, die Massen werden dich morgen auf ihren Schultern in den Präsidentenpalast tragen.» Wie viele Menschen er denn erwarte, fragte ich ihn. «Drei Millionen», antwortete er.

Als wir bis zum Ende des Decks spaziert waren, drehte Jean Ziegler sich um und sagte: «Schau dir das an. Wir sind die Fossilien der Weltrevolution. Genau das sind wir.»

So fossil gar nicht, jedenfalls nicht der sehr lebendige Ziegler, wie wir drei Jahrzehnte später wissen. 1990 war eine schlechte Epoche, der Höhepunkt des triumphierenden Neoliberalismus, das Ende der Systemkonkurrenz, und es war doch auch eine gute Epoche, denn die Berliner Mauer war gefallen, ein Aufbruch schien möglich. Doch Ziegler, mit afrikanischen Realitäten und der neokolonialen Restauration vertraut, ahnte schon, was es mit diesem Ende der Geschichte, das Francis Fukuyama formuliert hatte, auf sich haben würde. Die Demontage der bürgerlichen Demokratie begann. Die Bourgeoisie schickte sich an, das eigene Erbe, die Aufklärung, die Menschenrechte, den Gesellschaftsvertrag nach Rousseau (auch ein Genfer), den sozialen Kompromiss und den Parlamentarismus endgültig zu saldieren.

Als wir uns im März 2017 in einer Brasserie am Genfer Bahnhof trafen, für ein Interview zu seinem Buch Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen, registrierte ich, wider meine skeptische Erwartung, wie klarsichtig Ziegler das Ende des bürgerlichen Zeitalters wahrgenommen hatte. Er sagte: «Gerade darum stehen wir unmittelbar vor dem Aufstand des Gewissens.»

Das kann man für lautes Singen im dunklen Wald halten – oder man kann sich fragen, woher Ziegler seine Widerstandsfähigkeit, seine Widerborstigkeit gegen den Zeitgeist hernimmt.

Genau besonnen sind wir uns gar nicht so oft begegnet, ich habe nicht bei ihm studiert, doch der starke Eigensinn des Mannes schien mir immer tiefere Gründe zu haben als schiere Ideologiefestigkeit.

Als ich in den 1980er Jahren nach Paris zog, habe ich mich immer mal wieder gefragt, was Jean Ziegler eigentlich in der Schweiz halte, die ihn so nachhaltig mit übler Nachrede und Hass, fürchterlicher Juristerei und finanzieller Peinigung überzog. Und deren Genfer Zeitungen sich noch 2018 nicht entblöden, vor Zieglers Aussagen die Bemerkung zu stellen, er spreche mit schweizerdeutschem Akzent. Falsch, ihr calvinistischen Spiesser, die ihr euch von Ziegler ein paar Jahrzehnte lang in Bern vertreten liesset: Er hat schon lange einen eigenen Zungenschlag, er spricht zieglerisch. Natürlich habe auch ich ihn gefragt, auf Französisch mit schweizerdeutschem Akzent, wir reden immer Französisch, unsere Sprache der Aufklärung, des Lichts, warum er nicht ausgewandert sei, und natürlich hat er die Geschichte von der Begegnung mit Guevara in Genf und vom Gehirn des Monsters erzählt. Schon recht, würde da Michael Stötzel sagen, der kluge und sorgsame Redakteur, der seit vielen Jahren Zieglers Kolumnen in der Zeitschrift work betreut. Michael würde wohl auch die böse Ironie nicht entgehen, dass da draussen vor meiner Wohnung in Marseille gerade Barrikaden brennen und der französische Präsident Macron die Revolte gegen seine neoliberale Politik mit hoher Brutalität niederknüppeln lässt, während ich von der Sprache des Lichts schreibe.

Doch irgendwann schien sich für Zieglers Verharren in der ‹Republik Genf› eine weitere Erklärung aufzudrängen. Damals nächtigte ich im Hotel La Louisiane an der Pariser Rue de Seine, weil mich besagte Leïla aus unserer Wohnung geworfen hatte, und hörte, an der Rezeption plaudernd, Ziegler in meinem Rücken sagen: «Salut Olivier, comment va Leïla?» Das ‹Louisiane›, mitten in Saint-Germain-des-Prés, billig, gute Betten und TV- frei, war offenbar auch Zieglers Absteige. Er hat mich zu seinem Verleger mitgenommen, die Strasse runter, eines der ersten Häuser in Frankreich. Sofort eilten Lektoren herbei, darunter namhafte Intellektuelle Frankreichs, um dem Bestsellerautor, der bei den Revolutionären und Staatschefs ein und aus geht, ihre Aufwartung zu machen. Hier war er nicht der verfemte Hans aus Thun. Die Geschäftsleitung schickte Boten zum Traiteur (Zieglers Auflagen wirken auf Verleger motivierend), Menschen wuselten um ihn herum. Paris wäre viel zu bequem für ihn, dachte ich, das Treiben beobachtend. Zu wenig Gegnerschaft, zu viel eitles Getriebe. Sein innerer Ort hat wohl keine materielle Geografie – und erst recht kein ‹Volk›. Vor dem dröhnenden Identitätsgeschwafel der Gegenwart muss dem Soziologen grauen. Auch mit Paris-Tümelei hat er es nicht, obschon Simone de Beauvoir ihn in Paris zum Jean gemacht hat und er dort, nicht nur in Sartres Wohnung, entscheidende Momente seiner Jugend verbrachte.

Zieglers Ort findet sich gewiss auch in seinem persönlichen Kreis, aber vor allem immer dort, wo Menschen um würdige Bedingungen ringen, um ihre Emanzipation, um Entfaltung, ein Stück Glück und Solidarität und Kultur.

Das ist eine bewegliche Landkarte, doch Teil jener ideellen globalen Gemeinschaft zu sein, ist eine stärkere Zugehörigkeit als eine Adresse. Widmet er seine Schriften bekannten und unbekannten Freiheitskämpferinnen und Freiheitskämpfern, ist das keine Pose und nur scheinbar Kitsch. In seinem Buch Die Lebenden und der Tod (französisch 1973), das man heute wieder mit Gewinn liest, schreibt Ziegler: «Um die Angst vor dem eigenen Tod wenigstens teilweise zu mindern, gibt es nur einen Weg, den ich mühsam zu beschreiten versuche: Jeden Tag – durch Gedanken, Taten und Träume – so viel Glück für sich und die anderen, so viel Sinn zu erschaffen, dass, am Ende des Lebens, dieses Leben seiner eigenen Negation so viel Sinn wie möglich entgegenzustellen vermag.«

Kein Programm also, sondern eine Lebensform. Sie hat Ziegler vor einigem bewahrt, vom larmoyanten Abschwören mancher Genossen, von zähneknirschendem Verrat an humanistischen Werten, von der geldwerten Autoflagellation linker Konvertiten. Ohne Altersmilde kann er Banditen Banditen nennen, denn Schurken sind nun mal Schurken, und «ein Imperium der Schande» ist für die Schweiz noch ein leidlich milder Ausdruck, wenn man gerade verhungernde Menschen in Äthiopien erlebt hat.

Bewahrt hat sie ihn auch vor dem Heidi-Syndrom, der helvetischen Unschuld. Diese besondere Form der Realitätsverweigerung, die in der französischsprachigen Militärmedizin als ‹maladie suisse› Eingang gefunden hat, ist die Frucht der Söldnerei. Als primäre Akkumulationsform hat sie die Schweiz mentalitätsgeschichtlich geformt. Man mischt sich in fremde Händel ein, auf beiden Seiten, weil das rentabler ist. Was man sieht, wird verschwiegen und weggedrückt, und konsequenterweise verachtet man die Auftraggeber. Also alle Welt. Die Henkershand bigott zur Unschuldsbeteuerung gefaltet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Diskretion der Vermögensverwaltung die Hellebarde abgelöst hat. Ziegler hingegen fühlt sich privilegiert und denkt, gegenüber dem Menschengeschlecht in einer Schuld zu stehen. Einsicht ins eigene Privileg und in eine kollektive Mitschuld an den Verhältnissen dieser Welt schaffen eine Verbindlichkeit, einen Anspruch, nicht nur an sich selbst. Das ist sein ‹Verrat›, das nehmen ihm Banker, NZZ und Zürcher Grossbürger übel, mehr als die sachlichen Belege ihrer Wegelagerei.

Seine realistische, also oft drastische Sprache möchte man ihm noch nachsehen. Feinere linke Gemüter halten sie nicht immer für hilfreich, genauso wie sein Umgang mit Zahlen. Ruft Ziegler aber Dinge wie Weltgewissen, Menschenwürde, Humanismus, Hoffnung an, oder feiert er, mit romantischer Emphase, die Schönheit des Revolutionärs oder schon eher der Revolutionärin, schlägt ihm das entgegen, was der marxistische Philosoph Ernst Bloch «Kältestrom» genannt hat.

Blochs Wort zu verstehen, setzt kein Studium seiner Ästhetik voraus, der gelegentliche Besuch linker Veranstaltungen genügt. Dort folgt der analytischen Feintranchierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Regel der Streit darüber, wessen Analyse präziser sei. In dieser fruchtlosen Aufschneiderei, die nun auf Facebook sektiererische Fortsetzungen findet, äussert sich der Irrglaube, die Erforschung ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen allein sei schon eine ausreichende Voraussetzung für deren Veränderung. Schön wär’s. Bequem auch. Eineinhalb Jahrhunderte nach Marx ist es doch ziemlich einfach, mit der Kritik am Kapitalismus recht zu haben. Schon immer recht gehabt zu haben. Nur ist dieses Recht-haben leider erst einmal wirkungslos. Also belanglos. Höchste Zeit, hier ein abgegriffenes Wort aus den Feuerbach-Thesen noch einmal in Anschlag zu bringen: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.» Die Verbform ‹kömmt› ist entscheidend. Der Kapitalismus ist ein morbides Gesellschaftssystem. Er tötet und es tötelt. Sehr vielen Menschen scheint heute das Ende der Welt (oder zumindest des Menschengeschlechts auf der Welt) wahrscheinlicher und leichter zu bewerkstelligen als ein Ende des Kapitalismus. Bloch, 1977 in Tübingen verstorben, hielt die «Ontologie des Noch-nicht-Seins» dagegen. Können wir erkennen, was möglich wäre? Im Marxismus, wie in allem emanzipatorischen Denken, wirkt ein Wärmestrom. Er ist der Vorgriff auf eine umfassende humanisierte, ausbeutungs- und unterdrückungsfreie Gesellschaft. Der Kältestrom entzaubert, im besten Fall, den Kapitalismus. Seine Überwindung aber, und das scheint die Linke vergessen zu haben oder zu scheuen, braucht den Wärmestrom. Er macht uns im Sinne Gramscis attraktiv, darum möglicherweise hegemonial. Den Bewegungen des Wärmestroms entspringt die konkrete Utopie, die zur Emanzipation, zu sozialer Harmonisierung und zum Ende der Ausbeutung der Natur hinleitet. Am Anfang steht die befreiende Absicht. Zur Sprache wird diese Intention auch in Bildern, wie Ziegler sie benutzt. So gesehen ist dieser Mann ganz und gar Wärmestrom.

Später in jener Nacht auf der Fähre, die Ben Bella nach Algerien zurückbrachte, sprach Ziegler über die Abwesenden. Über Thomas Sankara, den die Jugend von Burkina Faso bis heute den ‹Che Afrikas› nennt, 1987 mit 37 Jahren in Ouagadougou ermordet. Über Amilcar Cabral, den Befreiungskämpfer von Guinea-Bissau und klugen Autor, der 1973 in Conakry gemeuchelt wurde, sechs Monate vor der Unabhängigkeit. Über Patrice Lumumba, den kongolesischen Befreiungshelden und kurzzeitigen Regierungschef, dessen Tötung 1961 in Katanga (seine Leiche wurde schon damals in Säure aufgelöst) die Schreckensherrschaft Mobutus einleitete. Über den Marokkaner El Mehdi Ben Barka, der 1965 in Paris unter Beteiligung französischer und israelischer Agenten entführt und zu Tode gefoltert wurde. Über Samora Machel, den dichtenden Befreiungskämpfer Mosambiks, dessen Flugzeug mysteriös an einer südafrikanischen Bergflanke zerschellte, und über Dutzende andere bekannte und ungezählte namenlose Opfer, welche die postkoloniale Unterdrückung Afrikas durch französische und britische Geheimdienste, die CIA und Südafrikas Schergen, Söldner und Mörder im Dienste einheimischer Eliten gefordert hat. «Wo und was wäre Afrika heute», fragte Ziegler damals, «wenn der Westen nicht eine ganze Generation der besten Köpfe umgebracht hätte? Afrika ist das Waisenkind des Befreiungskampfes.»

Meinen alten Notizen misstrauend, habe ich dieser Tage die Texte von Cabral und Machel hervorgekramt und auch in Al Imfelds monumentaler Sammlung Afrika im Gedicht gestöbert, und habe wie damals Erhellendes und Grossartiges vorgefunden, von der Aktualität eines Frantz Fanon (1961 gestorben) erst gar nicht zu reden. Im brutalen Kontrast zwischen der emanzipatorischen Tiefe und Wucht des afrikanischen Denkens, also den Potenzialitäten des Kontinents, Wiege der Menschheit, und der afrikanischen Realität mit ihren Kriegen, plündernden (Schweizer) Rohstoffkonzernen, französischen und anderen Interventionen, autoritären Regimen und Hungersnöten und weltbankverseuchten afrikanischen Eliten ist Zieglers Prosa entstanden. Gemessen am Alltag, etwa im Kongo oder in den neuen Sklavenlagern Libyens, entdeckt man bei ihm sogar eine neue Qualität: Zurückhaltung.

Frühmorgens, als Algers prachtvolle Bucht schon fast in Sichtweite war, begann Ben Bellas Arche der Revolution Warteschlaufen zu drehen. MDA-Leute schoben Sicherheitsgründe vor. Tatsächlich aber hatten Späher gemeldet, dass nur wenige Menschen am Hafen seien, um den Nationalhelden in den Präsidentschaftspalast zu tragen. Ich ging nach der Landung schnell von Bord und sah: Die historische Stunde war ins Wasser gefallen. Statt drei Millionen Menschen waren 20’000 da. Auf einige Wände der Casbah war ein schwarzes FIS gepinselt, das Kürzel der Islamischen Heilsfront. Daneben, in weissem Kalk, die Zahl 1965. Immer wieder 1965. Es war die Warnung der Militärs vor einer Wahl der FIS. 1965 hatten indonesische Militärs, mit US-amerikanischen Kommandos und britischen Truppen, den indonesischen Präsidenten Sukarno – er war einer der Gründer der Bewegung der Blockfreien – gestürzt und in den Monaten danach mindestens 500’000 Kommunisten, Lehrerinnen, Intellektuelle, Künstler totgeschlagen. Ein Gründungstrauma der Dekolonisation. Jedes algerische Kind kannte die Geschichte. Im Juni hatte die FIS die Lokalwahlen gewonnen. Sie sollte 1991 im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen 47 Prozent machen, worauf die FLN-Militärjunta die Demokratisierung abbrach und Zehntausende von FIS-Anhängern in Wüsten-KZs inhaftierte. Es war der Beginn eines zehnjährigen Bürgerkriegs.

Auf einem kleinen Platz kickten Jugendliche mit einem improvisierten Ball aus Fetzen herum, schnell, hart, mit letztem Einsatz. Warum sie nicht am Hafen seien, fragte ich sie, «Ben Bella ist zurückgekommen.» – «Wer?», fragte der eine. Ich sagte: «Einer der Helden des Befreiungskampfes». Sein Kumpel antwortete: «Das ist der Mann, der meiner Grossmutter das Gold gestohlen hat.» Eine Anspielung auf die Einsammlung der traditionellen Mitgiften und Notbatzen der Familien für die Aufbauprojekte Ben Bellas nach 1963. Eine Mehrheit der Algerierinnen und Algerier war nach der Unabhängigkeit geboren. Eine junge Nation. Wie in allen nationalistischen arabischen Regimes relativ gut ausgebildet, aber ohne Chancen auf einen Job. Sie waren hittistes, jene, die die Mauern stützen. Erst die Mauern, dann die Revolte.

Ben Bella verschwand am Tag seiner Rückkehr nicht im Präsidentenpalast, sondern in einer Residenz von «Sport und Musik», wie man in Alger den militärischen Sicherheitsdienst SM spöttisch nannte. Als er am nächsten Tag vor die Medien trat, warf er ihnen vor, die Zahl seiner Anhänger am Hafen heruntergeschrieben zu haben. Dann verschwand er erneut.

Ende 1994 und im Januar 1995 sah ich ihn in einem Kloster in Rom wieder. Die katholische Laienorganisation Sant’Egidio, die schon in Mosambik erfolgreich vermittelt hatte und die man manchmal «die UNO von Trastevere» nennt, suchte den algerischen Bürgerkrieg mit einem Friedensvertrag zu beenden. Ich war einer der Helfer. Ausser der Junta waren alle Kräfte gekommen. Die rote ‹Louisa›, Louisa Hanoune, die Chefin der Arbeiterpartei, traf sich mit Ben Bella. Ich war ihr ‹Bodyguard›. Sie rauchte unentwegt ungeniessbare algerische Zigaretten. Es war eine sehr lange Unterredung, man wusste nicht, ob sich Ben Bella am Ende nicht doch auf die Seite der Junta schlagen würde.

Nach zwei Monaten Verhandlungen unterschrieben die Islamisten von der FIS, die Progressiven von Aït-Ahmed (FFS), Ben Bellas MDA, die Trotzkisten von Louisa Hanoune etc. Alle ausser den Generälen, welche die Sache aus Römer Hotels observierten. Dieser Friedensvertrag war eine verbindliche und detaillierte Abmachung für den demokratischen Übergang. Er hätte wahrscheinlich Tausende von Leben gerettet. Nachdem auch die italienische und die deutsche Regierung ihre Unterstützung deutlich gemacht hatten, schien die Zeit der Junta abgelaufen. Doch da intervenierte der französische Ex-Aussenminister Roland Dumas in Berlin. Algerien, sagte er den Deutschen, sei französische Einflusszone. Die Deutschen sollten die Finger davon lassen. Sant’Egidio-Gründer Andrea Riccardi eilte nach Paris. Vergebens. Der Bürgerkrieg ging weiter.

2016, nach Ben Bellas Tod, würdigte ihn Ziegler so: «Er gehört zur Geschichte nicht nur des Maghreb, sondern der Menschheit. Er war ein Mann der Hoffnung, er war sich sicher, dass die Geschichte einem Sinn folge und dass die Humanisierung des Menschen ihr Horizont ist.» Das würden viele Algerierinnen und Algerier anders sehen.

Klar wollte Jean Ziegler meinen Bericht von den kickenden Kids und ein paar andere Eindrücke nicht hören. Fallende Helden der eigenen Geschichte sind immer ein harter Brocken. Auch meine Recherchen über die Verbrechen der algerischen Militärjunta waren gerade kein erfreuliches Thema. Über Algerien waren wir uns nie einig, er hielt dem FLN, der so viel für die Befreiung anderer Länder getan hatte, die Stange.

Das erinnerte mich an einen Tag im Mai 1981. François Mitterrand hatte gerade die französischen Präsidentschaftswahlen gewonnen, mithilfe der Kommunisten und eines Volksfrontprogramms light. Ziegler rief mich aus Paris in La Neuveville an. «Komm her», rief er ins Telefon. «Es ist wie 1789, der Sturm auf die Bastille, nur noch besser! Heute beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte Europas und des Sozialismus.» Meine mässige Begeisterung muss ihn frustriert haben. Ich erinnerte ihn an Niklaus Meienbergs entlarvendes Interview mit dem Kandidaten M. im Fond einer Staatskarosse, an Mitterrands Rolle als Innenminister während des Algerienkrieges («Algerien ist und bleibt französisch»), an das fingierte Attentat beim Observatorium, das ihn reinwaschen sollte. Und dann habe ich wohl auch noch die dunkle historische Bilanz sozialdemokratischer Politik ins Spiel gebracht. Zugegeben, das war nicht fein. Und zugegeben auch: Zieglers Enthusiasmus hatte mich neugierig gemacht. Ein paar Tage drauf nahm ich den Zug.

Bereits 1983 war die sozialistische Aufbruchsstimmung verflogen, nach einem Besuch Mitterrands in den USA. Es folgte ein erstes Austeritätsprogramm und im Jahr drauf kippte er die Kommunisten aus der Regierung.

Heute sind wir uns über die Bilanz der französischen und der deutschen Sozialdemokraten wohl einig. Nur verspüre ich einen tiefen Widerwillen zu sagen: Vielleicht hatte ich recht. Was heisst das schon? Es war vor allem heftig klugscheisserisch von einem damals 26-Jährigen, gleich die ganze Geschichte der Sozialistischen Internationale gegen die Möglichkeit in Stellung zu bringen, dass Mitterrands Wahl vielleicht sozialen Fortschritt hätte bringen können. Kältestrom eben.

Spätestens 2008 sollten wir das verstanden haben. Da durften wir uns einen Moment lang in die Brust werfen mit unserer Kapitalismuskritik, und sogar SP-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier, die eben noch für ein Sparprogramm votiert hatten, verkündeten Dinge wie «das Ende des Kapitalismus». Hoppla. Nebenbei stellte sich heraus, wie ungebildet und bar intellektueller Werkzeuge die Linke nun dastand. Ein führender Gewerkschafter dekretierte nach der UBS-Bankenrettung, die Finanzmärkte seien so stark abgekoppelt, dass sie keinen Einfluss auf die Realwirtschaft mehr hätten. Wie man dann ja gesehen hat … Und ein linker Ökonom glaubte zu wissen, Finanzderivate seien ein Nullsummenspiel. So sad, würde Trump da twittern.

Entscheidend war 2008 und in der Zeit danach aber etwas anderes: Wochenlang herrschte helle Panik bei den Masters of the Universe und in globalen Führungsgremien und Herrschaftszirkeln. In Davos, zum Jahresbeginn 2009, wurde deutlich, dass die Herren des Kapitals, die im Besitz aller harten Fakten waren, einerseits den Systemzusammenbruch und andererseits die Revolte, den globalen Umsturz befürchteten. Den Totalcrash haben sie mit Mühe abgewendet, oder, um genauer zu sein, sie müssen ihn bis heute immer wieder abwenden. Den globalen Umsturz hingegen hat die Linke verbockt. Sie hat zwar gut gedacht, aber im Ganzen war sie als historische Kraft unfähig, den Weg in ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu zeigen. Oder auch nur zu denken. Geschweige denn, ihn zu gehen. Manche unter uns haben den Aufstand befürchtet, weil revoltierende Menschen, wie gerade die Gelbwesten in Frankreich (ich schreibe Anfang Dezember 2018), nicht einfach nett sind. Andere blieben in der Hegemonie des Marktdenkens gefangen. Eine Menge bester Gründe hatten sie zur Hand, reichlich mit Kältestromwissen abgefedert: Die Verhältnisse seien nicht reif, es sei die falsche Sequenz, auch das Kräfteverhältnis nicht richtig konstelliert, und ausserdem stehe am nächsten Donnerstag ein Besuch beim Chiropraktiker an.

Irgendwann, so um die Jahreswende 2010 herum, taten die Herren des Kapitals ihre immense Erleichterung kund. Ihr Sturz war abgesagt. Vorläufig. Heute erzählen sie, wie kritisch es war. Gleichzeitig setzten sie den Neoliberalismus 2.0 in Gang. Jetzt mit allem, aber sehr autoritär. Logisch: Die Linke, die den uralten Wunsch nach Emanzipation von materiellen Zwängen trägt, scheint unfähig, gegen die menschenfressende kapitalistische Maschine einen Wärmestrom zu erzeugen.

Wir bezahlen es teuer. Mit einer Vierten Rechten à la Macron. Sie ist der bewaffnete Arm des Neoliberalismus 2.0. Und sie geht Hand in Hand mit den Identitären, den Neofaschisten und anderer brauner Brut.

Da rührt mich die Lebendigkeit eines Jean Zieglers an. Es mag nerven, wenn er einen Zwielichtigen einen «lieben Freund» nennt. Man möchte ihn stupfen, wenn er mal wieder zu lange an einem Helden, der längst keiner mehr ist, festhält. Und da findet sich noch ein Widerspruch und dort eine Inkohärenz, und vielleicht auch noch ein Preis oder eine Würde, die er besser ausgeschlagen hätte. Gnagnagnagna.

Mochte ich manche Kritik auch teilen, mir schien das immer Beckmesserei. Ziegler ist nur als Ganzes zu haben, und wer nur die äussere Form sieht (Lebemann, Wort-Berserker, eine gewisse Eleganz), verpasst das Essenzielle: Er ist ein Mann der Möglichkeitsform. Wenn in unseren Kreisen, die durch hundert Ent-Täuschungen gegangen sind, mal wieder zynische Ernüchterung über ein gesellschaftliches Experiment ausbricht, ist Ziegler immer schon da, und er hält unverdrossen die Möglichkeit der verbesserten Welt als konkrete Utopie hoch. Daran ist nichts blauäugig. Es nährt sich aus einer stabil verankerten Weltanschauung und aus der empirisch gesättigten Einsicht in Unterdrückung, Ausbeutung und Massenmord, in den Skandal der kannibalischen Ordnung Kapitalismus. Brauchen emanzipierendes Denken und linke Praxis im Jahr 2019 nicht deutlich mehr Wärmestrom und Möglichkeitsform? Sehr viel Möglichkeitsform?

 

1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Auf dem Traumschiff mit den Salonkommunisten. Namedropping für Ewiggestrige. Ideologisch längst verwest, biologisch kurz vor dem Kappen der Schläuche. Für „Büezer“ vollkommen ohne Interesse.
    „Wir bezahlen es teuer. Mit einer Vierten Rechten à la Macron. Sie ist der bewaffnete Arm des Neoliberalismus 2.0. Und sie geht Hand in Hand mit den Identitären, den Neofaschisten und anderer brauner Brut.“
    Glaubt Ihr den Käse wirklich? Egal. Die Kuhns, Fahrnis und Zieglers werden das Heraufdämmern ihres kitschigen Totalitarismus garantiert nicht erleben. Der Dreck hat seine jämmerliche Zeit gehabt. Keiner, der‘s erleben musste, möchte es zurück haben. Das Gerede, dass es den Sozialismus „noch nirgendwo gegeben“ habe, ist der kollektive Wahnsinn frankophiler Radaubolzen.

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