Sie ist die prominenteste Frauen- und Menschenrechtlerin der Türkei. Ob sie am internationalen Frauentag am 8. März demonstrieren wird, weiss sie noch nicht. Vielleicht sitzt sie dann schon wieder hinter Gittern.
EREN KESKIN: «Es ist unfassbar, dass Menschen in diesem Jahrhundert noch eingesperrt werden, weil sie anders denken als der Staat.» (Foto: Getty)
Eren Keskin muss noch einmal kurz ans Handy, bevor das Interview beginnen kann. Es ist ihre 86jährige Mutter, die sich vergewissern will, ob die Tochter noch in Freiheit sei. Mehrmals am Tag fragt die alte Dame nach, und das nicht etwa, weil sie vergesslich wäre: Eren Keskin kann tatsächlich jeden Augenblick ins Gefängnis kommen. Ob die prominenteste Frauenrechtlerin der Türkei auch in diesem Jahr bei der Demonstration zum Frauentag am 8. März mitmarschieren kann, bleibt deshalb bis zum letzten Moment ungewiss.
«Für das, was ich glaube, stehe ich ein.»
DAS LEBENSWERK
«Jeden Tag wache ich mit der Frage auf, ob ich heute ins Gefängnis komme», erzählt die 59jährige Rechtsanwältin in ihrem mit Bildern, Büchern und Akten vollgestopften Büro in der Innenstadt von Istanbul. «Es ist anstrengend, so zu leben: Ich habe eine alte Mutter, ich habe Katzen, ich habe eine Kanzlei – ich muss regeln, wie alle versorgt werden, wenn ich ins Gefängnis muss.» Es sei eigentlich unfassbar, sagt Eren Keskin, «dass Menschen in diesem Jahrhundert noch eingesperrt werden, weil sie anders denken als der Staat».
Keskin weiss selbst nicht mehr, wie oft sie schon vor Gericht gestellt worden ist, weil sie anders denkt. Aktuell sind 143 Verfahren gegen sie hängig, weil sie sich mit einer kurdischen Zeitung solidarisiert hatte – die Justiz wertet das als Terrorpropaganda. Die ersten Urteile liegen bereits Berufungsrichtern vor, die sie jeden Moment und ohne Verhandlung bestätigen können. Aktuell steht eine Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft zur Bestätigung an, aber das ist nur der Anfang. Keskin: «Insgesamt kommen Haftstrafen auf mich zu, die ich in meinem Leben nicht absitzen kann.»
Als Menschenrechtlerin ist Eren Keskin international bekannt, unter anderem als langjährige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, doch in ihrem Alltag als Rechtsanwältin engagiert sie sich insbesondere für Frauenrechte. Dafür entschied sie sich im Gefängnis, wo sie Mitte der 1990er Jahre schon einmal sass. Sie erzählt: «Ich habe im Gefängnis erlebt, wie sexuelle Gewalt als Folterinstrument eingesetzt wird. Ich habe gesehen, dass Frauen in der Polizeihaft sexuell misshandelt, vergewaltigt oder gefoltert wurden – und es gab niemanden, an den sie sich wenden konnten.»
Als Keskin 1997 aus dem Gefängnis kam, gründete sie deshalb eine Rechtshilfe für Frauen, die in der Polizeihaft sexuell missbraucht wurden. Auf Podien und Konferenzen informiert sie über die Menschenrechtsverletzungen an Frauen hinter Gittern und über Gewalt gegen Frauen in allen Gesellschaftsbereichen: «Das ist für mich zu einem Lebenswerk geworden», sagt sie. Dabei kritisiert Keskin nicht nur den Staat, sondern prangert auch den Chauvinismus in den Reihen der Linken an. «Das ist ein Widerspruch», kritisiert sie: «Einerseits wenden wir uns gegen diesen Staat, andererseits kopieren wir seine Strukturen. Davon müssen wir uns befreien.»
DAS MAKE-UP
Eren Keskin kämpft gegen alle Zwänge, die Frauen auferlegt werden – auch ganz persönlich. Die 59jährige pflegt einen markanten Stil mit toupiertem Haar und dramatischem Make-up, der ihr früher viel Kritik einbrachte, auch von Mitstreiterinnen. Keskin hielt ungerührt durch: Jede Frau solle sich kleiden dürfen, wie sie will, sagt sie.
Inzwischen ist die Kritik an ihrem Aussehen längst verstummt und dem Respekt gewichen: Respekt für ihren Mut, für ihren Intellekt und für ihre Integrität. Eine Flucht ins Ausland kommt für Eren Keskin nicht in Frage: «Wenn man verurteilt wird und flieht, dann wird das schnell vergessen», sagt sie. «Aber wenn man bleibt und ins Gefängnis geht, dann wird das öffentlich diskutiert, dann bewegt das etwas.» Statt sich ins Ausland abzusetzen, packt sie deshalb den Koffer für das Gefängnis.
Für die Mutter und die Katzen hat sie Betreuung gefunden. Wenn der Vollzugsbescheid kommt, wird sie sich von ihnen verabschieden müssen, vielleicht für immer. Sie werde dennoch mit erhobenem Haupt gehen, sagt Eren Keskin: «Ich glaube an das, was ich tue, und ich bin bereit, dafür einzustehen.»
Gleichberechtigt, aber: 500 geschlagene Frauen pro Tag
GEGEN GEWALT. Tausende Frauen protestieren am 8. März 2018 in Istanbul. (Foto: Keystone)
Auf dem Papier haben die türkischen Frauen alle Rechte: Das Wahlrecht besitzen sie seit 1930, und das Zivilrecht wurde in den letzten 20 Jahren mehrfach zu ihren Gunsten nachgebessert. Auch die Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt können internationalen Vergleichen durchaus standhalten, und doch sieht es in der Praxis anders aus (wie in anderen Ländern auch). Nach Angaben des türkischen Innenministeriums werden monatlich 20 Frauen totgeschlagen, meist von ihren Ehemännern oder beleidigten Verehrern. Fast 15’000 Fälle von häuslicher Gewalt werden jeden Monat registriert, das sind nahezu 500 verprügelte Frauen pro Tag.
UMDENKEN. Frauenverbände beklagen, dass die Gesetze zum Schutz der Frauen nicht ausgeschöpft und die Täter oft nicht zur Verantwortung gezogen würden. Ein Umdenken hat gerade erst begonnen: Mit einer Twitter-Kampagne setzten Studentinnen in Ankara jetzt durch, dass die mutmasslichen Mörder einer jungen Frau inhaftiert und vor Gericht gestellt wurden – nachdem die Staatsanwaltschaft sie zunächst freigelassen hatte.