Ein polnischer Auswanderer wird in London und Bern Migrations-Gewerkschafter und wandert jetzt wieder zurück

«In Polen ist Hoffnung»

Andreas Rieger

Adam Rogalewski (36) hat fünf Jahre lang für die Unia polnische Bauarbeiter und Hauspflegerinnen betreut. Jetzt kehrt er nach Polen zurück. Ex-Unia-Chef Andreas Rieger wollte von ihm wissen, warum.

ADAM ROGALEWSKI: «Meine Kollegen in Polen sagen mir zwar, ich sei verrückt, zurückzukommen. Aber ich habe keine Angst.» (Foto: ZVG)

Adam Rogalewski studiert in Krakau. Dann erhält er eine Stelle in der staatlichen Verwaltung. Doch er sieht trotzdem keine Zukunft. So wenig wie drei Millionen anderer Polinnen und Polen am Übergang zum neuen Jahrhundert, den 2000er Jahren. ­Rogalewski sagt: «Ich verdiente so wenig, dass der halbe Lohn für ein bescheidenes Zimmer draufging. Da suchte ich was anderes.» Auswandern! Rogalewski ist in der polnischen Schwulenbewegung aktiv und hat via sie Kontakte ins Ausland.

So hört er von einer Praktikumsmöglichkeit bei den Gewerkschaften in Gross­britannien und von einem Organisierungsprojekt mit polnischen Migrantinnen und Migranten. Er reist sofort hin und sieht: seine Landsleute haben einfachste Jobs, prekäre Arbeitsbedingungen und einen tiefen Lohn. Adam Rogalewski: «In Grossbritannien gab es nie flankierende Massnahmen zur Personenfreizügigkeit wie in der Schweiz. Zudem keine Mindestlöhne und keine Kontrollen. Ich bin überzeugt, das ist einer der Gründe, die zum Brexit führten.»

Gestärkt durch vier Jahre Organisierungserfahrung, kommt Adam in die Schweiz, zur Unia und organisiert auch da polnische Landsleute. Auf dem Bau und in der Pflege. Sein spektakulärster Erfolg ist der Streik bei der Spitex-Firma Primula. Im Tessin unterstützt er die Organisation von Hauspflegerinnen. Jetzt, nach fünf Jahren, kehrt Adam Rogalewski der Schweiz den Rücken und geht zurück nach Polen. Warum nur?

Andreas Rieger: Haben sich die wirtschaftlichen Bedingungen in Polen in
den letzten Jahren denn verbessert?
Adam Rogalewski: Ja, in Polen liegt die Arbeitslosigkeit heute nur noch bei vier Prozent. Jetzt gibt es einen Mangel an Fachkräften; es ist relativ leicht, eine Stelle zu finden, und die Löhne sind nicht mehr so tief. Da kehren effektiv viele Leute zurück. Dazu trägt auch bei, dass der Brexit meine Landsleute in Grossbritannien verunsichert.

Aber was ist mit der Politik? In Polen ­regieren doch die Rechtsnationalisten von Jaroslaw Kaczynski? Macht dir das als Linker, Gewerkschafter und Schwulen­aktivist denn nicht Angst?
Das Ganze ist kompliziert, ich muss da etwas ausholen. Als die Kommunisten 1990 die Kontrolle über die Gesellschaft verloren, wurden leider auch die Gewerkschaften und die Linke geschwächt. Das Ruder übernahmen dann Tadeusz Mazowiecki und sein neoliberaler Finanzminister Leszek Balcerowicz. Dieser lag ganz auf der Linie von Maggie Thatcher und den marktgläubigen Chicago Boys. Es kam zur radikalen Privatisierung und Deregulierung, wie dies auch die Weltbank verlangte.

«Die Situation in Polen ist weit besser als in Ungarn.»

Was war denn aus der Gewerkschaft Solidarnosc von Lech Walesa geworden? Sie hatte die riesige Bewegung gegen das alte, kommunistische Regime ja getragen?
Solidarnosc liess sich in die Regierungspolitik einbinden und erklärte den Leuten ebenfalls, man müsse jetzt eine forcierte neoliberale Politik machen, damit das Kapital auch investiere. Dieser Gesinnungswandel kostete Solidarnosc nicht nur viele Mitglieder, die Gewerkschaft verlor auch an Bedeutung. Solidarnosc wurde zudem immer konservativer, kirchengläubiger.

Hat der Sozialabbau unter den Neoliberalen den Boden für Kaczynskis nationalistische PiS-Partei geebnet?
Ja, unbedingt. Die Neoliberalen versprachen stets, der Markt werde den Fortschritt bringen. Aber irgendwann glaubten ihnen die Leute das nicht mehr. Dann kamen die Kaczynski-Nationalisten von der PiS-Partei und versprachen soziale Massnahmen: mehr Kinderzulagen, Rückkehr zum tieferen Rentenalter und die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Unter anderem mit diesen Forderungen gewannen sie die Wahlen 2015. Es war ein Erdrutschsieg. Seither haben sie viele dieser Versprechen effektiv auch umgesetzt. Gleichzeitig betreibt aber auch die PiS-Partei eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Kaczynski machte den Banker und Milliardär Mateusz Morawiecki zum Ministerpräsidenten.

Und wie hält es die PiS mit der EU? Gegen 80 Prozent der Leute stehen laut Umfragen offenbar hinter der EU.
Die PiS-Partei wendet ihren Nationalismus nicht gegen ganz Europa, sondern vor allem gegen Deutschland. Und natürlich gegen die Flüchtlinge. Lange Zeit setzte die PiS auf die Achse Polen–Grossbritannien, aber mit dem Brexit ist das nun hinfällig. Dann hoffte die Partei auf Donald Trump, doch vergebens. Klar, immer wenn in Polen was schiefläuft, sagen Kaczynskis Leute, die EU sei schuld. Das funktioniert bei der ländlichen Bevölkerung, aber bei der städtischen kaum.

Polen ist also noch nicht verloren?
Meine Kollegen in Polen sagen mir zwar, ich sei verrückt, zurückzukommen. Aber ich habe keine Angst. In den Städten beginnt der politische Wind nämlich bereits zu drehen: die PiS-Partei verlor in den lokalen Wahlen überall. Die jüngeren und ausgebildeteren Leute stimmen immer weniger für diese reaktionären Demagogen. Leider wählen sie eher liberal als links, denn die Linken sind noch immer diskreditiert. Aber die Situation in Polen ist weit besser als in Ungarn. In Polen kannst du was verändern, es gibt Hoffnung. Auch die Gewerkschaft macht Fortschritte. Es gibt auch wieder Streiks.

Nachtrag: Adam Rogalewski ist nun Leiter der internationalen Abteilung der polnischen Gewerkschaft OPZZ. Er arbeitet unter anderem im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) stark mit den verschiedenen Gewerkschaften aus Europa zusammen, auch mit dem britischen TUC und dem schweizerischen SGB. Für den Gewerkschafter und Europäer schliesst sich damit ein Kreis: sein Kreis der Migration.


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