Am 28. September würde Willi Ritschard 100 Jahre alt

«Wenn e Politiker lügt, mues är intelligänt sii»

Oswald Sigg

Er ist der einzige Büezer-­Bundesrat, den die Schweiz ­bisher hatte. Ein ­schlag­fertiger, schlauer, aber auch schüchterner, erinnert sich sein Sprecher.

DER BELIEBTESTE BUNDESRAT ALLER ZEITEN: Der Sozialdemokrat und Gewerkschafter Willi Ritschard mit seiner Gattin Greti. (Foto: Stadtarchiv Olten)

Arbeiter, Gewerkschafter, Sozialdemokrat, Bundesrat. Auf dem Umschlag des Willi-Ritschard-Buchs zu seinen 40 Jahren Politik in Gemeinderat, Kantonsrat, Regierungsrat und Bundesrat kommt der Arbeiter zuerst. Das war Ritschards Marke. Er war nicht nur der erste und einzige, sondern auch der letzte Arbeiter im Bundesrat. Immerhin: Willi, der ­Gewerkschafter, hatte einen Vorgänger im Bundesrat: Max Weber, der 1952 das Finanzdepartement übernahm und 1953, nach dem Nein zu seiner Finanz­ordnung in der Abstimmung, zurücktrat.

Willi Ritschard

1918: Im Landesstreikjahr kommt der ­Solothurner in Deitingen zur Welt. 1936: Abschluss der Heizungsmonteurlehre. Ab 1943: Gewerkschaftssekretär beim Schweizerischen Bau- und Holzarbeiterverband, 1955–63 Präsident des Solothurnischen Gewerkschaftskartells. 1945–63 SP-Kantonsrat, 1955–63 Nationalrat, 1964–73 Solothurner Regierungsrat. Am 5. Dezember 1973 Wahl in den Bundesrat mit 241 von 242 Stimmen, zunächst Vorsteher des Verkehrs- und Energiewirtschafts-, ab 1980 des Finanzdepartements. (mjk)

AUSLÄNDER & AKW

Max Weber hatte für den gelernten Heizungsmonteur zeitlebens eine wichtige Rolle gespielt. Politisch bildete sich Rit­schard nach der Berufslehre und während er Kantonalsekretär des Bau- und Holzarbeiterverbands war, in der von Weber 1946 gegründeten Schweizer Arbeiterschule weiter. Dort vertrat dieser die These, die ­Gewerkschaften müssten ihre Forderungen nach Arbeiterschutz und sozialer ­Sicherheit nicht auf der Strasse, sondern mit der SP zusammen in den Behörden vertreten. Schon begann die Ochsentour: Willi stieg zum Präsidenten des solothurnischen Gewerkschaftskartells auf, und dann ging’s weiter als Kantonsrat, Ammann von Luterbach SO, Regierungsrat, Nationalrat.

In Bern wurde Willi bald über seine ureigene Sprache zum veritablen Volksvertreter. Und er vertrat die Arbeiter so, wie es damals opportun war: Als Ritschard 1962 im Nationalrat «die Beschränkung der Zahl der ausländischen Arbeitskräfte verlangte, stieg seine Popularität auch über die Grenzen der SP hinaus». 10 Jahre später wurde mit dem Bau des AKW Gösgen begonnen, wozu der Regierungsrat Ritschard entscheidend beitrug.

Die bürgerliche Mehrheit im Parlament wählte ihn am 3. Dezember 1973 rechtzeitig in den Bundesrat, damit er die Besetzer der AKW-Baustelle in Kaiseraugst zur Einsicht bringen werde. Doch im Juni 1975 beschloss der Bundesrat einen Polizei-Grosseinsatz unter Führung eines Generalstabsoffiziers. Später besann sich Energieminister Ritschard eines Besseren und ­kündigte Anfang 1978 öffentlich den Rücktritt für den Fall an, dass der Bundesrat einen Armee-Einsatz gegen Zivilpersonen beschliessen sollte.

FURGLER & DIE SCHWEIZ AG

Ritschard war populär: ging er über den Bundesplatz ins nahe Volkshaus zum ­Mittagessen, setzte die Sekretärin für die «Verschiebung» auf dem Tagesplan 45 Minuten ein: da ein Gruss «ou dr Frou», dort ein Händeschütteln; da muss er eigens die Tante aus den USA begrüssen, und dort will ein Parlamentarier heute noch mit ihm jassen. So ging es überall in der Schweiz auf Strassen und Plätzen: er kam einfach nicht vorwärts.

Ritschard war schlagfertig: Seine Reden sind voll denkwürdiger Sätze, und schon nur die Titel waren beispiellos. Vor den Coop-Genossenschaften etwa sprach er nicht über «Die Schweiz von heute und morgen», sondern zum Thema «Eidgenossenschaft statt Schweiz AG». Und das im Jahr 1977.

Ritschard war schlau: Als wir eines Morgens zu einem Auftritt nach Aarau fuhren, las er hinten im Dienstwagen die NZZ. «Wüsset er», meinte er zum Chauffeur und mir, «wenn e Politiker lügt, mues är intelligänt sii. Er muess sich immer chönne draa erinnere, wiener s letscht Maal gloge hett.» Er blätterte weiter in der Zeitung. Nach zehn Minuten stöhnte er: «Dr Bundesroot Furgler isch en cheibe intelligänte Politiker.»

FINGERABDRÜCKE & STAATSBEGRÄBNIS

Zu seinem Wesen gehörte aber auch eine –für einen mächtigen Mann von so grosser Statur – eigenartige Schüchternheit. Oder war es der Respekt vor der Institution, dass er im Bundesratszimmer manchmal seine deutliche Sprache zu verlieren schien?

Auf der Strasse kam er einfach
nicht vorwärts, so populär war
Willi Ritschard.

Am 29. April 1983, im Kalten Krieg also, schloss der Bundesrat das Büro der ­sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti in Bern. Das EJPD beschuldigte das Büro, vor allem über zwei der PdA angehörende Journalisten «Teile der Friedensbewegung beeinflusst, Jugendliche ideologisch geschult und kriminalisiert, Desinformation betrieben und zahlreiche Demonstrationen organisiert zu haben; auch Dienstverweigerer habe es beraten». Wenig später wurde der geheime Bundespolizeibericht durch eine Indiskretion publik. Man verdächtigte die Entourage von Willi Ritschard, weil er im Bundesrat die Veröffentlichung angeregt hatte. Der Bundesanwalt persönlich erschien im Vorzimmer des Departementschefs und entnahm die Fingerabdrücke der Sekretärin, des Generalsekretärs, des persönlichen Mitarbeiters und des Informationschefs. Als er mit dem Stempelkissen vor Willis Büro stand, empfahl ich ihm dringend, es nicht zu weit zu treiben. Man hat den Täter nie gefunden. Doch erst die Indiskretion zeigte, dass die vorgebrachten Anklagen unbegründet waren. Die Bürgerlichen trauten dem roten Ritschard nicht wirklich.

Willi war fürs Leben gern Bundesrat. Aber er war müde geworden, demissionierte auf Ende Jahr und starb am 16. Oktober 1983 bei einer Wanderung auf dem Grenchenberg BE/SO. Er erhielt ein Staatsbegräbnis.

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