60 Jahre bis zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs
Kinder oder keine, das entscheiden wir alleine!

Endlich: Am 2. Juni 2002 sagten 72,2 Prozent der Schweizer Stimmberechtigten Ja zur ­Fristenregelung. ­Zuvor hatte die Schweiz eine der restriktivsten Abtreibungs­regelungen in Europa.

SKANDALÖS: Erst seit 16 Jahren dürfen Frauen in der Schweiz selber bestimmen, ob sie Kinder wollen oder nicht. (Foto: Juso)

Ganze 60 Jahre dauerte es bis zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. 60 Jahre? Eine fixe Zahl ist für die Historikerin immer ein Grund für ­Irritation. Auch wenn die Einführung des ersten gesamtschweizerischen Strafgesetzbuchs von 1942 zu Recht als gewichtiger Einschnitt gilt: sozialpolitische Kämpfe, welche die körperliche Integrität von Frauen im Fokus hatten, existierten nämlich auch schon vorher. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren es ledige, verwitwete wie auch verheiratete Frauen aus ärmeren Schichten, die zum Abbruch einer Schwangerschaft gezwungen waren. Dies aus ökonomisch-sozialen Gründen.

FINGERHUT UND KURPFUSCHER

Untersuchungen von Gerichtsakten aus den Jahren 1906–1919 über Frauen, die (illegal) abgetrieben ­hatten, zeigen ihre Beweggründe: die wirtschaftliche Not oder der Wunsch zur Begrenzung der Kinderzahl. Sie zeigen auch, wie die Frauen konkret abtrieben: indem sie Gebräue aus Fingerhut, Absinth, ­Safran oder Raute einnahmen, sich Seifenwasser, Jod, Phenol und Chinarindenwein einspritzten oder Laminariastifte und Kanülen einführten. Abtreiben war lebensgefährlich. Besonders, wenn Frauen einen Kurpfuscher aufsuchen mussten. Viele starben an den unhygienischen Verhältnissen, an Bauchfellentzündungen usw.

Es ist naheliegend, dass sich hauptsächlich ­sozialistische Frauen für eine Reformierung des ­Abtreibungsparagraphen einsetzten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kämpften Teile der Arbeiterinnenbewegung zusammen mit der politischen Linken für die Entkriminalisierung der Abtreibung. 1909 forderte etwa der Arbeiterinnenverein Zürich, die Mindeststrafe bei Verstoss gegen das Abtreibungsverbot zu senken. 1914 setzte sich der Schweizerische Arbeiterinnenverband für die Straffreiheit in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft ein.

STRAFRECHT VON MÄNNERN FÜR MÄNNER

Dann kam die neue Frauenbewegung. Die Forderung nach freier Abtreibung stellte ab 1968 einen wichtigen Anspruch dar. Sie spielte eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung feministischen Engagements. Die neue Frauenbewegung stellte das seit der Industrialisierung herrschende bürgerliche Frauenideal in Frage und erweiterte den Protest der 68er Studierendenbewegung mit einer vertieften ­feministischen Machtkritik. Der politischen Gleichberechtigung setzten sie neue Postulate entgegen, wie etwa sexuelle und körperliche Integrität oder Lohn für Hausarbeit. Ihnen ging es um den um­fassenden kulturellen Wandel eines gesellschaftlichen Systems, das sie als bürgerlich-patriarchal einstuften.

Wie in anderen europäischen Ländern und in den USA haben Feministinnen seit den frühen 1970er Jahren auch in der Schweiz für die Straf­losigkeit und Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gekämpft – im Namen von Selbstbestimmung, Autonomie und körperlichen Integrität. Dies kulminierte in einem harten Kampf, in dem das Strafrecht «von Männern für Männer» grundlegend in Frage gestellt wurde.

Es ging den ­Feministinnen auch um die Anerkennung von Frauen als politische Subjekte. Und nicht länger als Objekte männlicher Weltanschauung und Politik. Sie verstanden, wie es die Frauengruppe der Progressiven Organisationen der Schweiz (POCH) 1975 zuspitzt: «den Kampf für den straflosen Schwangerschaftsabbruch als Teil des Kampfes für die Befreiung der Frau». Die feministischen Debatten über die Abtreibung setzten die ­gesellschaftlich als privat markierten Elemente als Ausgangspunkt: den weiblichen Körper, die Sexualität, die Gebär­fähigkeit der Frau. Diese Auseinandersetzungen dienten als Grundlage für die feministische Kritik an den patriarchalen Machtverhältnissen. Mit ihrer Losung: «Das Private ist politisch» sprachen Feministinnen der 1970er Jahre jenen ­Bereichen, die vormals als unpolitisch gegolten ­hatten, eine politische Komponente zu. Sie betrachteten die Kontrolle über ihre Reproduktion als ein zentrales Thema und die Möglichkeit des legalen und sicheren Abbruchs ­einer Schwangerschaft als eines ihrer wichtigsten Ziele.

60 Jahre: Das Stichdatum

1971 lanciert ein fünfköpfiges Komitee die Volksinitiative für «Straflosigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung», die mediale Öffentlichkeit dazu schafft die neue Frauen­­bewegung. 1975 lehnt die Bundesversammlung die Initiative ab. Sie wird zugunsten einer Initiative für die Fristenlösung zurückgezogen. Diese wird 1977 mit 51,7 Prozent abgelehnt. Erst 2002 wird die Fristenlösung per Gesetz legalisiert.

KONTROLLE ÜBER IHR EIGENES LEBEN

Es ging ihnen um mehr als um eine juristische Regelung oder einen Paragraphen: «Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine» war ein weitverbreiteter Slogan, der diese Haltung in ihrer Ganzheit umfasst. Es ging ihnen um die Kontrolle über ihr eigenes Leben und um die Voraussetzung, ganz an der Gesellschaft partizipieren zu können.

Damit setzten sie auch einen wichtigen Kon­trapunkt zu den sogenannten Lebensrechtsbewegungen, also den Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern, die sich zu Beginn der 1970er Jahre zu formieren begannen. 1979 etwa brachten die Vereinigungen «Ja zum Leben» und «Helfen statt töten» die Initiative «Ja zum Leben» in Umlauf, die ein komplettes Abtreibungsverbot forderte: Sie definierte den Beginn menschlichen Lebens mit der Zeugung, das nur durch den natürlichen Tod beendet werden könne. Abtreibung ist demnach Mord.

Mit ihrem Aktivismus wollten Feministinnen also auch als mündige Subjekte anerkannt werden und dem Vorwurf, «Kindsmörderinnen» zu sein, entgegenwirken, indem sie sich für gewollte Kinder ­aussprachen. Oder wie es die feministische Frauenzeitung «Fraz» auslegte: «Wir wollen nicht nur abtreiben können, sondern wir wollen auch Kinder haben können, und zwar unter guten Bedingungen, wir wollen sie nicht isoliert in der Kleinfamilie aufziehen, wir wollen unsere ­Sexualität geniessen können, wir wollen die Ärzte und Ehemänner von der Verantwortung (der schweren!) für uns befreien.» (1. Juli 1975)

Die neue Frauenbewegung hat ihren Aktivismus für straffreien Schwangerschaftsabbruch in ­einer gesamtgesellschaftlichen Kritik situiert. Sie ermöglichte es, über Selbstbestimmung als ein emanzipatorisches Konzept zu sprechen: Feministinnen anerkannten Frauen als aktive Subjekte ­ihres eigenen Lebens, die sich und anderen die Freiheit von diskriminierenden sozialen Einschränkungen erkämpften. Für Feministinnen war die Rhetorik der Selbstbestimmung eine Möglichkeit, über das eigene Leben und die Lebensperspektiven zu bestimmen – ohne durch Gynäkologen, religiöse und moralische Standards bevormundet zu werden. So ist gerade die Anerkennung des Zusammenhangs zwischen persönlicher Erfahrung und sozialer Situa­tion ein Vermächtnis der neuen Frauenbewegung.

Leena Schmitter ist Geschlechterforscherin und Medien­sprecherin bei der Unia. Ihre Dissertation hat sie über die Frauenbewegung und die Liberalisierung des
Schwangerschaftsabbruchs in der Schweiz geschrieben.

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