Editorial

Die Stimme der Bauarbeiter

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

18’000 Bauarbeiter gehen auf die Strasse. Für die Pensionierung mit 60 und gegen die Renten­abbaupläne der Baumeister. Es ist die grösste Arbeiterdemonstration in der Schweiz seit hundert Jahren. Und was bringt die «Sonntagszeitung» am Tag danach? Ein ganzseitiges Interview mit Baumeisterchef Gian-Luca Lardi, in dem dieser die Frührente «als untragbar» bezeichnet. Plus 10 Zeilen und ein kleines Bild zur Demo. Eine klare Positionierung des Tamedia-Blattes: die Stimme der Meister.

BERN. Dabei ertönt die Stimme der Bauarbeiter laut und klar. Sie geben ihre Rente 60 nicht her. Warum nicht? Christian, Stefanie, Bruno und Klara aus dem Berner Oberland haben es mir im Extrazug an die Demo nach Zürich erzählt. Christian ist 69, er hat 45 Jahre Bau auf dem Buckel. Sein Gesicht, ein Albert Anker. Neben ihm Stefanie (26), sie hat grad ihre Lehre als Montage-Elektrikerin abgeschlossen.

Vis-à-vis Bauarbeiter Bruno (54) und Frau Klara (50). Jetzt Christian: «Wisst ihr eigentlich, was das Schönste in meinen ganzen 45 Jahren auf dem Bau war?» Kopfschütteln. «Dass ich mit 60 gehen konnte. Ich wär’ sonst gar nicht mehr hier.» Nicken und: «Ja, Chrigel, noch ein wenig geniessen, gell?» Bruno zeigt auf sein Handy: «Und ich sage euch, mit diesem Knochen da ist alles noch strenger geworden. Früher, da hat man mir am Morgen gesagt, was ob ist. Jetzt rufen sie ständig an von der Bude: Mach doch noch dies, Brünu. Mach doch noch das!» Klara lacht: «Wir sollten 35 Jahre lang 30 sein – und dann, Chlapf und Pensionierung und fertig!» Stefanie verdreht die Augen. Und wieder Bruno: «Eigentlich sollten wir am Morgen mal sagen: ‹So, Chef, heute bleiben wir schön hier, und du gehst raus›, wenn’s schifft …» Gelächter.

OLTEN. Chrigel nachdenklich: «Sie haben uns einfach in den Fingern. Die Alten nehmen sie ja nur noch befristet.» Und Bruno: «Uns geht es gut, war einmal! Und jetzt wollen sie noch die Rente kürzen.» Er habe zur AHV «zuchä» nur 400 Fränkli Pension, sagt Chrigel. Klara fährt dazwischen: «Und was, bitte, ist mit der Krankenkasse, hä? Die tun grad so, als würden wir nach der Pensionierung auch nicht mehr essen.» Stefanie muss lachen: «Nichts mehr essen nach der Pensionierung …» Und nochmals Klara: «Umgekehrt sind ja auch nicht alle Chefs Vaganten, sie sind unter Druck.» Chrigel nickt und schüttelt den Kopf: «Trotzdem, was für eine Zeit! Aber ich will mich nicht beklagen. Wisst ihr eigentlich…» Und so nimmt die Reise ihren Lauf. Die vier kennen sich vom Unia-Kegeln, vom Unia-Jassen. Und vom Kampf ums Geburtshaus Zweisimmen. «Fast wie eine Familie, halt», sagen sie. Heute auf dem Familienausflug nach Zürich.

Liebe Leserinnen und Leser Mit diesem work verabschieden wir uns in die Sommerpause. Am 17. August sind wir wieder zurück in Ihrem Briefkasten. Wir wünschen Ihnen einen guten Sommer!


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