Der US-Online-Gigant liefert fast alles, neu auch in die Schweiz

Amazon rollt an

Christian Egg

Jetzt drängt Onlinehändler Amazon mit voller Kraft in den Schweizer Markt. Und die Post öffnet ihm Tür und Tor.

EXPANSION. Der zweifelhafte Online-Gigant kommt jetzt auch in die Schweiz. (Foto: DPA)

Ein Buch bestellen auf Amazon? Klar, das geht – und noch viel mehr. Der grösste Onlinehändler der Welt bietet heute fast alles an: Velos und Windeln, Kondome und Kaffeemaschinen, Salami und Star-Wars-Figuren. Bezahlen können die Kundinnen und Kunden mit der Amazon-Kreditkarte.

Amazon wächst seit seiner Gründung ungebremst. Bereits im ersten vollen Betriebsjahr 1996 erzielte Gründer Jeff Bezos 16 Millionen Dollar Umsatz. Seither gab’s nur eine Richtung: nach oben. Vorläufiger Höchststand sind sagenhafte 178 Milliarden im vergangenen Jahr. Mitt­lerweile gilt der Onlinegigant, ge­messen am Börsenwert, als die ­zweitgrösste Firma der Welt, hinter Apple, aber vor Microsoft und Google.

VERMITTELN UND KASSIEREN

Amazon ist längst mehr als «nur» ein Onlinehändler, der auf eigene Rechnung Waren ein- und verkauft. Der Gigant vermietet Platz in seinem ­Onlineshop an andere Händler, die von der grossen Reichweite profitieren wollen. Dafür müssen sie Provi­sionen bezahlen. Im vergangenen Jahr hat Amazon zum ersten Mal mehr Artikel von Drittanbietern verkauft als eigene.

Amazon sieht seine Plattform als «Ökosystem». Darum bietet der Konzern anderen Firmen an, auch gleich den Vertrieb der Produkte zu übernehmen. Die Artikel kommen dann in die Amazon-Lager und von dort direkt zu den Kundinnen und Kunden. Finanzieren können interessierte Firmen ihr Wachstum durch Amazon-Kredite. Und werden so vollends abhängig. Gleichzeitig sind neben den Kundinnen und Kunden auch die kooperierenden Händler und Hersteller gläsern. Amazon weiss alles über sie.

SIROOP ÜBERROLLT

Bisher lieferte Amazon nur einen Bruchteil seines Angebotes in die Schweiz. Das Zollprozedere für viele Artikel war (zu) aufwendig. Das ändert sich jetzt. Wegen der Schweizer Post. Der Bundesbetrieb übernimmt die Verzollung für das gesamte Amazon-Sortiment. Und das ist gewaltig: Laut der Website scrapehero.com über 500 Millionen Artikel. Zum Vergleich: Digitec Galaxus, bisher klare Nummer eins im Schweizer Onlinehandel, ist gerade dran, sein Sortiment zu vergrössern – von 1,6 auf 2 Millionen Artikel.

Alleine die Ankündigung von Amazon hat ein erstes Opfer gefordert: Coop dreht seiner Plattform ­Siroop den Hahn zu – nach nur gerade zwei Jahren. Das erklärte Ziel damals: eine Schweizer Alternative zu Amazon. Jetzt sagt Coop-Sprecher Urs Meier: «Leider ist es uns nicht gelungen, in der kurzen Zeit nach der Lancierung die Plattform genügend voranzutreiben.»

Eine Vorwärtsstrategie verfolgt dagegen die Migros-Tochter Digitec Galaxus. Sie hat soeben in Weil am Rhein, unweit der Schweizer Grenze, ein vollautomatisches Logistikzentrum in Betrieb genommen. Damit will das Unternehmen «die Schweizer Preise dem deutschen Niveau angleichen und unser Sortiment ausweiten», sagt ein Manager von Digitec Galaxus. Um neben Amazon bestehen zu können, kopieren sie auch seine Plattformidee: Gegen Kommission können Drittanbieter seit vergangenem Oktober über Galaxus ihre Produkte verkaufen.

Amazon weiss alles über seine Kunden und Händler.

KEINE CHANCE

Ob all dies reichen wird, um Amazon die Stirn zu bieten, wird sich weisen. Zwar hatte Digitec Galaxus im letzten Jahr mit 834 Millionen Franken Umsatz noch die Nase vorn, vor den ausländischen Konkurrenten Zalando (685 Millionen) und Amazon (575 Millionen). Allerdings wuchsen letztere schneller. Und Branchenkennen rechnen damit, dass Amazon mit dem geplanten Vollsortiment den Umsatz in der Schweiz in drei Jahren vervierfachen kann. Das wären dann über zwei Milliarden – so viel, wie die sechs grössten Schweizer Shoppingcenter zusammen.


Lausige Löhne, krankes Personal und keine Zeit für WC-Pausen Amazon – das gnadenlose System

Überall, wo der US-Gigant Amazon seine Verteilzentren betreibt, macht er Negativschlagzeilen. Als brutale Firma.

Wut. Arbeiter in den USA wehren sich gegen die Steuerergeschenke für Amazon. Der Online-Riese zahlt Löhne, die zum Leben nicht reichen. (Foto: Keystone)

FRANKREICH. Anfang Mai machte das Wirtschaftsmagazin «Capital» eine Umfrage unter der Belegschaft im Amazon-Lager in Montélimar bekannt. Drei Viertel der Befragten leiden an Schmerzen, die sie auf die harte Arbeit im Lager zurückführen. Zwanzig Kilometer und mehr legen sie am Tag zurück, unter ständigem Zeitdruck. Ein Drittel der Angestellten leiden an Schlafstörungen. Ein Viertel mussten schon wegen der Arbeit weinen. Fast die Hälfte der Befragten gaben an, wegen arbeitsbedingter Gesundheitsprobleme schon beim Arzt gewesen zu sein.

ENGLAND. «Ich trinke kein Wasser, weil ich keine Zeit habe, aufs WC zu gehen», sagte ein Amazon-Mitarbeiter zur Onlineplattform «Organise». Andere pinkeln in eine Flasche. 240 Beschäftigte machten bei der Umfrage mit. Drei Viertel von ­ihnen vermeiden es, zur Toilette zu gehen – aus Angst, die Ziele nicht zu erreichen, die Amazon vorgibt. Zum Beispiel beim Verarbeiten von Retouren: 400 Artikel pro Stunde. Macht 9 Sekunden pro Artikel. Wer das nicht schafft, bekommt Strafpunkte – und riskiert den Job.

Im Verteilzentrum: Jeden Tag 20 Kilometer rennen.

DEUTSCHLAND. Ungefähr 11 Euro pro Stunde beträgt der Einstiegslohn in den sechs deutschen Verteilzen­tren. Verdi-Gewerkschafter Thomas Voss kritisierte im work: «Das reicht nach vierzig Jahren nicht für eine auskömmliche Rente. Der Staat muss dann dazuzahlen.» Verdi will Amazon zum Einlenken zwingen und macht mit Streiks Druck.

USA. Viele Amazon-Angestellte sind auf staatliche Lebensmittelgutscheine angewiesen, weil ihr Lohn nicht zum Leben reicht. Das berichtet die Onlinezeitung «The Intercept». Alleine im Bundesstaat Arizona betrifft dies 1800 Menschen – einen Drittel der dortigen Amazon-Belegschaft. Gleichzeitig profitiert der Onlineriese massiv vom Staat: Bis jetzt hat er 1,2 Mil­liarden Dollar an Subventionen, Steuererleichterungen und Infrastrukturmassnahmen kassiert.

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