Nichts da mit goldenen Prämien und Pensionsalter 52: 60 Prozent der SNCF-Bähnler verdienen weniger als 2450 Euro netto. Und sie können frühestens nach 42 Dienstjahren in Rente.
ER SETZT EIN ZEICHEN: In Paris hat sich ein streikender SNCF-Mann einen Pfeil aufs Gesicht gemalt, das internationale Symbol der Bähnler. (Foto Keystone)
Bei der französischen Bahn SNCF zu arbeiten sei ein «Schlaraffenland auf Schienen». Behauptet die «NZZ am Sonntag». Wahr aber ist: Müssten die Journalisten und Journalistinnen des Zürcher Bankenblattes zu den Bedingungen der SNCF arbeiten, würde morgens keiner von ihnen auch nur aus dem Bett steigen.
Sie beten bloss nach, was ihnen die Propaganda der Pariser Regierung vorfaselt. Beispiel Pensionierung: Lokführer, schreibt die NZZ, gingen mit 52 Jahren in Pension, Schalterbeamte mit 57. Nett. Nur wurde die alte Pensionsregelung schon vor zehn Jahren abgeschafft. Seit 2008 wird sie zunehmend verschärft. Heute können Bähnlerinnen und Bähnler, die 1961 oder später geboren wurden, nach 42 Dienstjahren in Pension. Jüngere (unter 45) sogar erst mit 43 Dienstjahren. Man muss 166 Trimester einbezahlt haben. Rechne: Wer mit 52 in Rente gehen möchte, müsste also spätesten als Zehnjähriger bei der Bahn begonnen haben.
MACRON WILL KONFORNTATION
Eine Studie der SNCF-Pensionskasse von Mai 2016 zeigt, dass sich das reale durchschnittliche Pensionsalter rasch der 60er-Grenze annähert und demnächst bei 61 Jahren liegen wird. Das ist viel später als das durchschnittliche Pensionsalter etwa von französischen Polizisten, die unter ähnlichen Arbeitsbedingungen leiden (Nacht-, Schicht-, und Wochenenddienste, Gefahren, Stress).
Diese Fakten gehen im SNCF-Bashing des französischen Präsidenten Emmanuel Macron unter. Er sagt: Der SNCF geht es schlecht, sie hat 50 Milliarden Schulden (siehe Kasten), und daran ist das Arbeitsstatut der Angestellten schuld. Macron hatte die Kampagne gegen die Arbeitenden viele Monate vor der angekündigten Demontage des Statuts losgetreten, mit Hilfe von PR-Agenturen. Er wollte jeden Widerstand im Keim ersticken.
Es geht um viel mehr als um die Bahn.
Diese Strategie schwächelt gerade. Dutzende von aggressiven Medienauftritten von Macrons Leuten haben die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner zusammengeschweisst. Der Streik wird härter, die Demonstrationen wachsen. Es ist eine Auseinandersetzung um die Köpfe. Denn es geht um viel mehr als um die Bahn. Macron provoziert die Konfrontation, weil die Bähnlergewerkschaften, vorab die CGT und Sud Rail, sich seit Jahren erfolgreich gegen die neoliberale Zerstörung des Service public wehren. Oft stellvertretend für andere Berufsgruppen, die weniger gut gewerkschaftlich organisiert sind. Rémy, der Rangiergruppenchef im Bahnhof Saint-Charles von Marseille, sagt zu work: «Wenn wir diese Auseinandersetzung nicht gewinnen, ist es um Schule, Spitäler, Uni, Sozialversicherungen und den ganzen öffentlichen Dienst Frankreichs geschehen. Wir dürfen nicht verlieren!» Doch dafür mussten sie erst eine Menge Gerüchte über ihre «Privilegien» wegräumen. Die «Schuhprämie»? Gab es nie. Die «Kohleprämie»? Wurde 1974 abgeschafft. Überhaupt die zahlreichen Prämien und hohen Löhne? 60 Prozent der Bähnlerinnen und Bähnler verdienen, nach Zahlen der SNCF, weniger als 2450 Euro netto pro Monat, mehr als ein Viertel sogar weniger als 2000 Euro (2350 Franken).
Im Juni gibt es eine Jahresprämie von 8 Prozent (also 232 Euro für einen Lohn von 2900 brutto). Die Feriengrati beläuft sich einheitlich auf 250 Euro. Und dann ist da noch eine «Prämie des 13. Monats» – Kilometer entfernt vom bei uns üblichen Dreizehnten. Unterm Strich verdienen die 150’000 SNCF-Beschäftigten 246 Euro pro Monat weniger als vergleichbare Angestellte privater Unternehmen mit über 500 Beschäftigten.
DIE FRÜCHTE DES ZORNS
SNCF-Bähnler haben maximal Anrecht auf 132 Freitage pro Jahr. Normale Angestellte in der französischen Privatwirtschaft kommen auf 131 Freitage. Einen Tag weniger. Doch am Wochenende haben sie frei. Den Bähnlerinnen und Bähnlern werden hingegen nur 12 garantierte Wochenenden jährlich zugestanden. Theoretisch.
Für sein Gerede über «Privilegien» erntet Macron jetzt die Früchte des Zorns. Benjamin Cattiau, seit 14 Jahren bei der SNCF, platzt der Kragen: «2017 habe ich 65 Nächte gearbeitet, an 6 Feiertagen und an 26 Wochenenden. Ich verdiene 2100 Euro netto. Fünf Jahre ohne Lohnerhöhung. Unsere Arbeitsbedingungen und unser Dienst am Publikum werden jeden Tag schlechter.» So redet er weiter. In knappen, harten Sätzen. Am Ende sagt er: «Es sind jene, die 150’000 verdienen, die denen, die nur 1500 bekommen, einreden wollen, das Problem seien die, die 2000 verdienen.»
Macron im Stechschritt
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron weiss, dass er sich beeilen muss mit dem «Umbau» des öffentlichen Dienstes, der Arbeitslosenversicherung, des Rentensystems, des Bildungssystems und mit seiner massiven Privatisierungsstrategie. Denn die Proteste und Streiks gegen seine Zerschlagung des Service public ziehen an, bei der Bahn, an Schulen und Unis, in den Spitälern, in den Ämtern, überall. Macrons Problem: Er muss die Arbeit der Leute schlechtreden, die dafür sorgen, dass dies alles überhaupt noch funktioniert. Etwa bei der SNCF. Die Bahn hat zwischen 2004 und 2014 ihre Produktivität jährlich um 3,5 Prozent erhöht. Sie ist inzwischen produktiver als die Deutsche Bahn (DB), die Macron als Modell nennt.
GELDKUH. Doch die 46 Milliarden Schulden, Macrons Totschlagargument, haben mit dem Bähnlerstatut nichts, aber mit dem irren Ausbau der Schnellbahnstrecken sehr viel zu tun. Doch darüber will Macron nicht sprechen. Auch nicht darüber, dass Deutschland seiner Bahn eine zweistellige Milliardenschuld abgenommen hat. 2017 musste die SNCF allein für Schuldzinsen rund 2 Milliarden Franken hinblättern. Ein Topgeschäft für Banken und Fonds. Und hat Macron die Bahn erst zur Aktiengesellschaft gemacht, werden die Zinsen nochmals um einen Drittel steigen.